Grenzkrise zwischen Armenien und Aserbaidschan spitzt sich zu
Die Spannungen an der Grenze zwischen Armenien und Aserbaidschan führten zu einem weiteren Vorfall am 27. Mai 2021. Zuerst berichtete das Verteidigungsministerium Aserbaidschans, dass in der Nacht zum 27. Mai die Sabotagegruppe der armenischen Streitkräfte versucht habe in der Region Kalbadschar das aserbaidschanische Territorium zu infiltrieren. Der Mitteilung des Pressedienstes des Ministeriums zufolge, seien sechs armenische Soldaten entwaffnet und gefangen genommen worden. Später erörterte das Ministerium die Details der Operation. Die armenische Aufklärungs- und Sabotagegruppe hätte die Staatsgrenze Aserbaidschans von zwei Richtungen aus überquert und versucht, eine strategisch wichtige Versorgungsstraße zu verminen.
Das Verteidigungsministerium Armeniens bestätigte den Vorfall, gab jedoch an, dass die Soldaten auf dem eigenen Staatsgebiet von aserbaidschanischen Truppen gestellt worden seien. Das Ministerium forderte von der aserbaidschanischen Seite, die Gefangene sofort und ohne Vorbedingungen freizulassen.
Der amtierende Premierminister Armeniens Nikol Paschinjan äußerte sich zum Vorfall und sagte, dass die armenischen Soldaten an der Grenze Minenaktivitäten durchgeführt hätten, nämlich die Installation von Warnschildern. Er bezeichnete den Vorfall als Entführung.
Der stellvertretende Generalstabschef der armenischen Streitkräfte Edward Asrjan beschrieb die Situation folgendermaßen: „Der Feind war in das armenische Territorium vorgerückt. Um ihn zu umzingeln, wurde beschlossen, eine neue Position von der Flanke aus einzurichten. Der Feind bemerkte jedoch mit Hilfe von Aufklärungsmitteln die vorrückenden armenischen Truppen rechtzeitig und dann passierte was passiert ist“. Außerdem drohte Edward Asrjan mit der Gefangennahme aserbaidschanischer Soldaten: „Es gibt immer die Möglichkeit aserbaidschanische Soldaten gefangen zu nehmen“. Auch die vollständige Vernichtung von aserbaidschanischen Truppen schloss Asrjan nicht aus.
Die Opposition in Armenien wirft Nikol Paschinjan Hochverrat vor und beschuldigt den amtierenden Premierminister für die Gefangennahme der armenischen Militärangehörigen verantwortlich zu sein. Manche Oppositionsvertreter rufen die Regierung auf, die bevorstehenden Parlamentswahlen im Juni zu verschieben und einen Kriegszustand im Land auszurufen. Dass ein Kriegszustand verhängt werden könne, sagte auch Andranik Kotscharjan, ein einflussreicher Paschinjan-Anhänger.
Am Abend des 27. Mai erklärte Nikol Paschinjan, dass er einen Plan zur Lösung der Spannungen an der Grenze habe. Dieser besteht darin, dass russische, französische und US-amerikanische Truppen an umstrittenen Teilen der armenisch-aserbaidschanischen Grenzen stationiert werden müssen. Kurz darauf trat der amtierende armenische Außenminister Ara Ayvazyan zurück.
Zuletzt kommt es immer wieder zu Zwischenfällen an der Grenze zwischen beiden Ländern. Am 26. Mai gaben armenischen Streitkräfte an, dass am 25.Mai bei einem Schusswechsel mit den Grenztruppen des Nachbarlandes ein Soldat getötet worden sei. Aserbaidschan behauptet, mit diesem Vorfall nichts zu tun zu haben.
Frühere Entwicklungen
Am 26. Mai gab das armenische Außenministerium eine Erklärung zum Tod eines seiner Soldaten während der Grenzstreitigkeiten mit Aserbaidschan ab und bezeichnete den Vorfall als Verstoß gegen die Normen des Völkerrechts.
„Trotz der Forderungen der internationalen Gemeinschaft weigert sich Aserbaidschan, seine Streitkräfte aus dem Hoheitsgebiet Armeniens abzuziehen. Dies eskaliert die Situation weiter und untergräbt die regionale Sicherheit und Stabilität. Die von Aserbaidschan im Hoheitsgebiet Armeniens verübten Feindseligkeiten geben der Republik Armenien das Recht, die notwendigen und angemessenen Schritte zu unternehmen, um ihre Souveränität und territoriale Integrität zu schützen und die Sicherheit ihrer Bevölkerung zu gewährleisten“, heißt es in der Erklärung des Außenministeriums. „Es ist bemerkenswert, dass Aserbaidschan versucht, diese illegalen militärischen Aktivitäten auf dem Territorium Armeniens durch die Verbreitung von Desinformation zu vertuschen. Die armenische Seite ist bereit, eine internationale Untersuchung einzuleiten, um alle Umstände dieses tödlichen Vorfalls herauszufinden“, hieß es in der Erklärung.
Der amtierende armenische Außenminister Ara Ayvazyan empfing die Botschafter der in Armenien akkreditierten Mitgliedsstaaten der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS): Sergey Kopyrkin (Russland), Alexander Konyuk (Weißrussland) und Bolat Imanbaev (Kasachstan). Ayvazyan sagte ihnen, dass Aserbaidschan sich unter Missachtung der Forderungen der internationalen Gemeinschaft nicht nur weigere, seine Streitkräfte aus dem Gebiet Armeniens abzuziehen, sondern auch auf neue illegale Aktionen gegen einen OVKS-Mitgliedstaat zurückgreife. Er sagte, dass das Fehlen einer angemessenen Bewertung und Reaktion auf die tödlichen Aktionen der aserbaidschanischen Streitkräfte durch die internationale Gemeinschaft, vor allem die OVKS-Mitgliedstaaten, zu einer weiteren Eskalation der Situation führen würde, was die schlimmsten Konsequenzen für die regionale Sicherheit und Stabilität haben könnte.
Am 25. Mai wurde der armenische Sergeant V. Khurshudyan (geb. 1989) bei einem angeblichen Scharmützel mit aserbaidschanischen Streitkräften, die sich auf armenischem Territorium befanden, erschossen. Aserbaidschans Verteidigungsministerium reagierte auf die Situation, indem es die aus Armenien verbreiteten Informationen bestritt. „Nach unseren Informationen ereignete sich der Vorfall in Bezug auf den Tod des armenischen Soldaten aufgrund eines Unfalls. Die aserbaidschanische Seite ist in keiner Weise daran beteiligt gewesen“, hieß es in der aserbaidschanischen Erklärung.
Das aserbaidschanische Außenministerium forderte Eriwan auf, die Lage an der aserbaidschanisch-armenischen Grenze nicht durch falsche Aussagen zu verschärfen und konstruktive Gespräche zur Beilegung von Meinungsverschiedenheiten zu führen. Das Ministerium sagte, dass die jüngste Zunahme der Opfer der armenischen Armee eine angemessene Untersuchung erforderlich mache.
Inhalt des geheimen Dokuments durchgesickert
Am 20. Mai haben die armenischen Medien den gesamten Inhalt des „geheimen Dokuments“ über die Grenzziehung mit Aserbaidschan, über das im Internet viel spekuliert wurde und dessen Echtheit von den Behörden in Eriwan bestätigt wurde, veröffentlicht.
In Absatz 1 heißt es: „Um Frieden, Stabilität und Sicherheit in der Region gemäß den Aussagen der Staats- und Regierungschefs der drei Länder vom 9. November 2020 und 11. Januar 2021 zu stärken, hat eine gemeinsame Kommission die Grenze zwischen der Armenien und Aserbaidschan abgesteckt, nach der die Demarkierung schließlich stattfinden soll.
Aus dem zweiten Absatz folgt: „Die Regierungen von Aserbaidschan und Armenien sollen bis zum 31. Mai 2021 nationale Delegationen innerhalb der Kommission ernennen.“ Gemäß Absatz 3 würde die russische Regierung eine Delegation für „beratende Unterstützung innerhalb der Kommission bis zum 31. Mai dieses Jahres“ bilden. Der vierte Absatz sieht vor, dass die Delegationen von speziellen Bevollmächtigten geleitet werden, die gemäß den nationalen Gesetzen Aserbaidschans, Armeniens und Russlands ernannt werden.
Nach dem fünften Absatz wird die Gemeinsame Kommission ihre erste Sitzung bis zum 30. Juni dieses Jahres abhalten, woraufhin eine Liste der Schlüsselbereiche und ein Arbeitsverfahren erstellt werden sollen. Darüber hinaus wird die Zusammensetzung der Expertengruppen genehmigt, zu denen Beamte der zuständigen Behörden und Organisationen gehören. Diese Expertengruppen werden gemäß Absatz 6 innerhalb eines Monats nach der ersten Sitzung der Kommission „eine Liste der in ihren Zuständigkeitsbereich fallenden Tätigkeiten vorlegen“.
Der siebte Absatz ist besonders wichtig: „Alle Fragen im Zusammenhang mit der ordnungsgemäßen Umsetzung dieser Erklärung und der Erreichung der Ziele der Kommission werden ausschließlich auf politischer und diplomatischer Ebene im Einklang mit den trilateralen Abkommen auf höchster Ebene gelöst.“
In der Zwischenzeit lehnte es das armenische Parlament ab, eine von der Opposition verfasste Erklärung zu unterstützen, in der der amtierende Premierminister aufgefordert wurde, das Dokument zur Gründung der Kommission nicht zu unterzeichnen. „Die Unterzeichnung eines Dokuments über die Ziehung und Demarkierung der armenisch-aserbaidschanischen Grenze infolge möglichen Drucks oder eines Prozesses, der die die freie Meinungsäußerung ausschließt, führt zur Unterordnung nationaler und staatlicher Interessen sowie zur Entstehung von ungünstigen und irreversible Folgen im Zusammenhang mit den Grenzen von Bergkarabach, der Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts seines Volkes, einer schwere Belastung für künftige Generationen des armenischen Volkes und zu der Gefahr, des Rechts auf Wiederherstellung der Gerechtigkeit unter dem Völkerrecht beraubt zu werden“, heißt es in der Erklärung der Oppositionspartei Helles Armenien, die die Sitzung initiiert hatte.
Der Vorsitzende des armenischen Parlamentsausschusses für auswärtige Beziehungen Ruben Rubinyan sagte, dass der Prozess der Abgrenzung und Demarkierung der armenisch-aserbaidschanischen Grenzen nicht für die Grenzen von Bergkarabach gelten würde. „Wenn dieses Dokument unterzeichnet und die Grenzziehungskommission eingerichtet wird und dies kann nur geschehen, wenn aserbaidschanische Truppen, die Anfang Mai in das armenische Gebiet vordrangen, zu ihren ursprünglichen Positionen zurückkehren, geht es um die Abgrenzung und Demarkierung der Grenze zwischen Armenien und Aserbaidschan, nicht Aserbaidschan und Bergkarabach. Mit anderen Worten, der Abgrenzungsprozess und die Kommission werden nichts mit den Grenzen von Bergkarabach und seiner Statusfrage zu tun haben“, sagte Rubinyan.
Der armenische Bürgerbeauftragte Arman Tatoyan betonte, dass der Prozess der Grenzziehung zwischen Armenien und Aserbaidschan die Schaffung einer Sicherheitszone um die Regionen Gegharkunik und Syunik entlang aller Grenzabschnitte mit Aserbaidschan erfordern würde.