Interview mit Dr. Andreas Umland zur Eskalation des armenisch-aserbaidschanischen Konflikts und Russlands Rolle in den Territorialstreitigkeiten des Kaukasus
Dr. Andreas Umland ist Herausgeber der Buchreihe „Soviet and Post-Soviet Politics and Society“ des ibidem-Verlags Stuttgart, Senior Expert am Ukrainischen Institut für die Zukunft Kyjiw sowie Nonresident Fellow am Institut für Internationale Beziehungen Prag und Schwedischen Institut für Internationale Angelegenheiten Stockholm.
-Zuallererst die offensichtliche Frage, warum eskaliert der Konflikt gerade jetzt und warum nicht im Gebiet des eigentlichen Territorialstreits zwischen Armenien und Aserbaidschan, sondern an der unumstrittenen zwischenstaatlichen Grenze?
Das ist tatsächlich insofern verwunderlich, als die offizielle Grenze zwischen Armenien und Aserbaidschan nicht umstritten ist. Im traditionellen Territorialstreit zwischen Eriwan und Baku geht es um Bergkarabach und die umliegenden Gebiete. Murad Muradow und Rusif Husejnow vom Toptschubaschow-Zentrum Baku haben in einem Artikel, welcher auf der einflussreichen ukrainischen Webseite Ukrainska Pravda erschienen ist, darüber spekuliert, was der Grund für den jüngsten Konflikt sein könnte. Sie haben argumentiert, dass nur Armenien an einer Eskalation an der armenisch-aserbaidschanischen Grenze interessiert sein kann. Für Aserbaidschan ist diese Eskalation riskant, da Armenien Mitglied der Organisation der Vertrages über Kollektive Sicherheit (OVKS) ist. Somit ist Armenien und das armenische Territorium durch die OVKS – und insbesondere durch Russland – geschützt. Daher glauben Muradow und Husejnow, dass diese Provokation von Armenien ausgeht, und sie sehen verschiedene Szenarien als möglich an, unter anderem, dass die Eskalation im Interesse der derzeitigen Regierung in Armenien ist. Sie sehen jedoch auch die Möglichkeit, dass die Eskalation von den früheren Machthabern Armeniens, etwa von den ehemaligen pro-russischen Präsidenten Kotscharjan und Sarkisjan initiiert sein könnte, welche möglicherweise versuchen dort im Trüben zu fischen.
Es gibt verschiedene Erklärungen über die Ursprünge der kürzlichen Gewalteskalation. Das Argument von Muradow und Husejnow erscheint mir als bislang am meisten einleuchtend, da Aserbaidschan tatsächlich hier nicht nur in eine größere Auseinandersetzung mit Armenien, sondern möglicherweise mit der gesamten OVKS hineingezogen werden könnte. Das kann nicht im Interesse Bakus liegen. Deswegen vermute ich, dass die Eskalation zum Beispiel mit inneren Dynamiken in Armenien zu tun hat und etwa als Ablenkungsmanöver zu innenpolitischen Zwecken zu verstehen ist. Der Konflikt steht eventuell gar nicht in direkter Verbindung mit dem Territorialstreit zwischen den beiden Ländern um Bergkarabach.
-Als Experte der russischen Außenpolitik im post-sowjetischen Raum, wie denken Sie wird sich die OVKS in diesem Konflikt zukünftig positionieren?
Es ist natürlich so, dass Aserbaidschan derjenige Staat ist, welcher eine Revision des jetzigen Status-Quo anstrebt, im Speziellen die Rückführung von Bergkarabach unter die Kontrolle Bakus. Insofern ist Aserbaidschan der erste übliche Verdächtige. Jedoch hätte man dann eine militärische Konfrontation in Bergkarabach und den umliegenden Gebieten erwartet, sodass die OVKS dann nicht zuständig gewesen wäre, da dies kein international anerkanntes Territorium von Armenien und der Pseudostaat Bergkarabach kein Mitglied der OVKS ist. Somit gäbe es für die OVKS keine direkte Verantwortung für einen Konflikt in und um Bergkarabach, zumindest solange Moskau kein eigenes Interesse an einer Eskalation und eigenen Intervention hat. Die OVKS hat keine vertragliche Verpflichtung, Armeniens Interessen auf einem Territorium zu vertreten, welches nach der internationalen Rechtslage zu Aserbaidschan gehört. Die OVKS ist als Verteidigungsbündnis formal nur darauf ausgerichtet, das international anerkannte Territorium seiner Mitgliedsstaaten zu sichern. Deswegen verwundert es, dass die Eskalation an der unumstrittenen zwischenstaatlichen Grenze geschieht. Wenn es zu einer größeren Eskalation an der Grenze und insbesondere falls es zu einem Vorstoß aserbaidschanischen Streitkräfte in armenisches Territorium kommen sollte, müssten sich die OVKS-Mitglieder – also im Klartext russische Truppen – einmischen.
Interessant ist, dass, während Russland grundsätzlich auf der Seite Armeniens steht, die OVKS-Mitglieder Belarus und Kasachstan sich ambivalent gegenüber dem Bergkarabach-Konflikt gezeigt und weniger eindeutig für Armenien ausgesprochen haben. Insofern geht es hier im Wesentlichen darum, wie sich Moskau bei weiterer Eskalation verhalten würde. Russlands Verhalten ist jedoch nur schwer vorherzusagen, da die Entscheidungsprozesse im Kreml auf einen sehr einen kleinen Zirkel von Putin & Co. beschränkt sind. Mit oder ohne gerechtfertigten Anlass, könnte dieser Kreis freilich zu dem Schluss kommen, dass ein Krieg im Südkaukasus, aus welchen Gründen auch immer, gerade opportun wäre. Zum Beispiel könnte in Moskau in einer bestimmten Situation Interesse daran haben, und dies ist hier reine Spekulation, eine Art Stellvertreter-Krieg gegen die Türkei anzuzetteln, da Ankara eng mit Baku verbunden ist. So könnte der Kreml etwa Ankara für die türkische Syrien- oder Libyenpolitik „bestrafen“. Moskau könnte der Türkei demonstrieren, dass es dazu in der Lage ist, im russischen Einflussgebiet einem türkischen Verbündeten das Leben schwer zu machen.
Darüber hinaus sind außenpolitische Abenteuer oftmals von innenpolitischen Kalkulationen angetrieben. So war es beispielsweise bei der Annexion der Krim, die vor dem Hintergrund der Proteste in Moskau 2011/12 stattfand. Die Krimannexion diente unter anderem dazu, die russische liberale Opposition zu spalten. Die Landnahme von 2014 hatte die Konsequenz, dass sich ein Teil der prowestlichen Intelligenz hinter Putin gestellt hat, obwohl sie mit dem Regime unzufrieden war, jedoch die Annexion begrüßte. Andere wiederum lehnten die Annexion ab, was zu einer Spaltung der liberalen Opposition führte. Dies war gewollt und für das Regime zumindest kurzfristig vorteilhaft.
Das Beispiel der Krimannexion ist nicht Eins-zu-Eins auf den armenisch-aserbaidschanischen Konflikt übertragbar. Jedoch sind es oft solche idiosynkratischen und nicht ohne weiteres von außen erkennbaren innenpolitischen Erwägungen in Russland wie anderen Staaten, die zu einer Eskalation von Konflikten führen können.
-Ist eine solche innenpolitische Situation in Russland denn momentan gegeben, sodass eine Eskalation vorteilhaft wäre? Könnte es sein, dass der momentane ökonomische Druck in den involvierten Ländern dazu führen könnte, dass man nationalistische Stimmungen mobilisieren möchte, um von sozio-ökonomischen Problemen abzulenken?
Aus der Ferne ist derzeit kein russisches Interesse an einer Eskalation im Südkaukasus auszumachen, zumal es für die meisten Russen eine Region von relativ geringer Bedeutung ist. Die Region hat einen anderen Stellenwert als die Krim oder auch der Donbass – und natürlich der Nordkaukasus als Teil der Russischen Föderation. Die Konflikte in diesen Regionen haben relativ große Bedeutung für die russische Bevölkerung, während das Interesse der meisten Russen am armenisch-aserbaidschanischen Konflikt gering sein dürfte. Falls es hier innenpolitische Triebkräfte gibt, sind diese wahrscheinlich eher auf der armenischen oder aserbaidschanischen Seite zu suchen, wobei hier die Einsätze, wie eingangs erwähnt, höher für Baku als für Eriwan erscheinen.
Vor kurzem veröffentlichte die russische Forscherin Maria Snegowaja zwei hochinteressante Aufsätze zum Einfluss der sozio-ökonomischen Situation auf außenpolitische Einstellungen in Russland, in der sie sowohl auf die Rhetorik russischer Präsidenten als auch die Meinungen einfacher Russen eingeht. In diesen Studien stellte Snegowaja fest, dass Russland in Zeiten relativ guter sozioökonomischer Entwicklung beziehungsweise hoher Energieexporteinnahmen außenpolitisch aggressiver eingestellt ist, als in Zeiten schlechter wirtschaftlicher Bedingungen. Letztere sind eng mit dem Weltölpreis verbunden, da dieser die sozioökonomische Lage in Russland wesentlich mitbestimmt. Ist der Ölpreis niedrig, ist die rhetorische Aggressivität des Präsidenten und die außenpolitische Unternehmungslust einfacher Russen gedämpft.
Diese Forschungsergebnisse legen die Vermutung nahe, dass Russland sich auch in Zukunft in Zeiten schwieriger sozioökonomischer Entwicklung und fallender Energiepreise außenpolitisch eher zurückhalten wird. Der Fokus des Kremls wird aufgrund der verschiedenen Herausforderungen infolge der Coronavirus-Pandemie wahrscheinlich eher auf innenpolitischen Fragen liegen. Womöglich ist dies allerdings nicht auf den russisch-ukrainischen Konflikt beziehbar, da dort weitere Dynamiken im Spiel sind. Leider kann man hier eine künftige russische Zurückhaltung aufgrund wirtschaftlicher Probleme nicht so einfach voraussagen. Bei anderen Ländern gilt jedoch wahrscheinlich die von Snegowaja festgestellte Korrelation, und in Bezug auf den Südkaukasus kann man daher davon ausgehen, dass Russland eher nicht an Eskalation interessiert ist, solange es in ökonomischen Schwierigkeiten ist.
-Welche Risiken und Gefahren sehen Sie für die Region? Könnte es darüber hinaus Auswirkungen auf andere Territorialkonflikte im post-sowjetischen Raum geben, insbesondere im Hinblick auf Georgien?
Momentan sind viele Faktoren im Fluss. Das Engagement Russlands in Georgien und die Schaffung der Pseudostaaten in Südossetien und Abchasien sowie die Unterstützung Armeniens im Konflikt mit Aserbaidschan sind Dinge, die sich Russland in den letzten 20 Jahre wegen seiner relativ guten wirtschaftlichen und sozialen Situation leisten konnte. Wenn es jetzt in Russland wirtschaftlich bergab geht – und vieles deutet momentan darauf hin, dass etwa Großkonzerne wie Gazprom und Rosneft aufgrund der fallenden Nachfrage nach Energieressourcen in erhebliche Schwierigkeiten geraten – könnte sich die russische Position im Kaukasus in Zukunft ändern. Eine politische Destabilisierung Russlands könnte sogar dazu führen, dass der gesamte Kaukasus wieder in Bewegung gerät. Dies könnte womöglich auch den Nordkaukasus betreffen, da Tschetschenien und andere nordkaukasische Teilrepubliken der Russischen Föderation stark vom Zentrum subventioniert werden. Abchasien und Südossetien sind meinem Verständnis nach auch von russischen Subventionen abhängig. Sollte sich der Öl- und Gaspreis innerhalb der nächsten Jahre nicht wieder erholen, könnte es sein, dass irgendwann einfach kein Geld mehr für die Pseudostaaten und Krim da ist.
Dann würde sich zum Beispiel die Frage stellen, was dann mit dem Kaukasus passiert. Mit Hinblick auf Bergkarabach ist das schwer einzuschätzen, da es hier keine direkte Verbindung mit Moskau gibt. Bei Abchasien und Südossetien fragt man sich allerdings, ob diese politischen Gebilde noch überlebensfähig sein werden, wenn die Geldströme aus Moskau sich verdünnen, und ob die Menschen dann noch Interesse am besonderen Status ihrer Territorien haben werden. Vor allem wäre das der Fall, wenn es in Georgien wirtschaftlich gesehen nicht schlecht aussieht. Man könnte sich vorstellen, dass Länder wie Georgien und die Ukraine am Ende besser aus der gegenwärtigen Krise rauskommen als Russland, weil sie nicht so sehr auf den Verkauf von Energieressourcen eingestellt sind. Sollte der Energiepreis nicht wieder deutlich ansteigen, könnte es sein, dass diese Länder dann im Vergleich zu Russland attraktiver werden und dass sich die Kalkulationen der Menschen in den umstrittenen Gebieten ändern. Dann könnten die dortigen Bevölkerungen aus sozioökonomischen Gründen ein Interesse daran entwickeln, wieder Teile Georgiens oder der Ukraine zu werden, anstatt im Schwebezustand einer Abhängigkeit von einem Russland zu verbleiben, dass nicht mehr so zahlungskräftig ist, wie es einmal war.
Philip Roehrs-Weist