Paschinjan: Neue Verfassung ist der Schlüssel zu Frieden und einem unabhängigen Sicherheitssystem
In einem Interview mit dem öffentlichen Rundfunk am 1. Februar brachte der armenische Premierminister Nikol Paschinjan die Verabschiedung einer neuen Verfassung, die er angekündigt hatte, erneut mit der Möglichkeit in Verbindung, Frieden zu schaffen.
"Es wird heute viel über eine neue Verfassung gesprochen, die angeblich mit dem Druck Aserbaidschans zusammenhängt. Jede Regierung sollte analysieren und verstehen, auf welcher Grundlage sie die Sicherheit des Landes gewährleisten will. Die Regierung sollte die Probleme und die Punkte identifizieren, die externe Bedrohungen verursachen. An dieser Stelle möchte ich auch auf die Frage der Armee zurückkommen. Wie ich bereits sagte, sollte die armenische Armee auf dem souveränen Territorium der Republik Armenien operieren, um das Land vor äußeren Bedrohungen zu schützen", sagte Paschinjan. Dies sei nicht nur aus interner, sondern auch aus externer Sicht wichtig, da man auf diese Weise seine Ziele nach außen hin kommuniziert. "Wenn man etwas kommuniziert, reagieren andere darauf, was zu Konflikten führen kann", fügte er hinzu. "Es ist kein Geheimnis, dass wir heute in einem aggressiven Umfeld leben. Unser Ziel ist es zu verstehen, warum dieses Umfeld uns gegenüber aggressiv ist", erklärte der armenische Premierminister.
Paschinjan verglich Armenien mit einem in rot gekleideten Mann, der eine Straße entlanggehen muss, auf der auf beiden Seiten Stiere stehen. Der Premierminister merkte an, dass es in einer solchen Situation wichtig sei zu entscheiden, wie man diesen Weg beschreiten wolle: indem man das rote Kleidungsstück anbehalte, da es einem sehr am Herzen liege, oder indem man das Kleidungsstück wechsle, es aus dem Verkehr ziehe und es als Teil der Geschichte beiseite lege. Paschinjan schätzte, dass Armenien in den letzten 30 Jahren den ersten Weg eingeschlagen hat. "Ich kann nur eines mit Gewissheit sagen: In einem roten Gewand werden wir diesen Weg nicht gehen können. Wenn wir unsere Kleidung wechseln, kann ich wiederum keine Garantien geben, aber wenn es eine Option gibt, diesen Weg zu gehen, dann ist es diese zweite Option. Wenn wir über das rote Kleid sprechen, sprechen wir in Wirklichkeit über den Übergang vom nicht-staatlichen zum staatlichen Denken", betonte das armenische Staatsoberhaupt.
Paschinjan spekulierte über Aserbaidschans Rolle in diesem Prozess. "Wir müssen diese Frage intern beantworten. Aber es steht fest, dass die Umgebung immer Teil des Bewusstseins ist. Und das es in Wirklichkeit ein gegenseitiger Prozess ist", erklärte er. In diesem Zusammenhang ging Paschinjan auch auf die Unabhängigkeitserklärung ein, die territoriale Ansprüche im Bezug auf Bergkarabach beinhaltet: "Wir haben erklärt, wozu wir einen Staat gründen. Diese Erklärung ist wichtig in dem Prozess der Schaffung eines unabhängigen Staates. Wir stellen drei Maßstäbe für diesen Prozess fest: Der erste ist die historische Gerechtigkeit, der zweite sind die Wünsche des armenischen Volkes und der dritte ist die Entscheidung des Nationalrats von Bergkarabach und des Obersten Rats von Armenien über die Wiedervereinigung." Paschinjan schlug vor, darüber zu diskutieren, wie diese Formulierungen von Armeniens Nachbarn, nicht nur Aserbaidschan, sondern auch der Türkei und Georgien, wahrgenommen werden könnten: "Warum fragen wir uns nicht, warum Georgien eine enge Verteidigungszusammenarbeit mit Aserbaidschan und der Türkei unterhält, aber nicht mit Armenien? Könnte es etwas mit den Botschaften zu tun haben, die wir in der Gründung unseres Staates niedergelegt haben?"
Er ist sich sicher, dass Armenien die Probleme lösen muss, die in der Unabhängigkeitserklärung niedergelegt sind. "Die Frage ist, ob sich unsere Staatspolitik von dieser Botschaft leiten lassen und sich auf die Entscheidung des Nationalrats von Bergkarabach und des Obersten Rats von Armenien über die Wiedervereinigung von Bergkarabach und Armenien stützen soll. Dies ist eine Frage der politischen Entscheidung. Sollte dies der Fall sein, bedeutet es, dass wir niemals Frieden haben werden. Mehr noch, es bedeutet, dass wir jetzt sofort Krieg haben werden.
Premierminister Nikol Paschinjan sagte, Armenien brauche eine neue nationale Sicherheitsstrategie, die die Logik des Schutzes der legitimen territorialen Integrität und der Interessen des Staates widerspiegeln müsse. Ihm zufolge haben die Ereignisse des Jahres 2020 und die darauf folgenden Prozesse die Notwendigkeit diktiert, das Sicherheitskonzept zu überarbeiten und über den Aufbau eines Verteidigungs- und Sicherheitssystems auf Kosten der eigenen Fähigkeiten nachzudenken. Er merkte an, dass vor den Feindseligkeiten im Jahr 2020 das unausgesprochene Vertrauen herrschte, dass die Sicherheitsprobleme Armeniens durch die Mitgliedschaft in der OVKS gelöst seien und es daher möglich sei, die Kräfte auf die Verteidigung von Bergkarabach zu konzentrieren. "Es hat sich jedoch herausgestellt, dass die OVKS nicht nur nicht die Verantwortung für die Sicherheit Armeniens übernehmen wird, sondern im entscheidenden Moment auch sagte: Löst eure Probleme selbst", erklärte er. "Das ist es, worüber wir hier diskutieren. Mit anderen Worten, wenn ich das, was ich gerade gesagt habe, unter der Logik Ihrer Frage interpretiere, dann sage ich Folgendes: Ich sage, lasst uns eine Formel schaffen, die es uns ermöglicht, so unabhängig wie möglich hier zu leben, in diesem Umfeld, unter diesen Bedingungen, und dabei ein so unabhängiges Sicherheitssystem wie möglich zu gewährleisten", erklärte Paschinjan.
Er fügte hinzu, dass das Konzept für die Reform der Streitkräfte im Januar 2022 ausgereift war. Im Winter 2022 fanden jedoch Ereignisse statt, die es unmöglich machten, dieses Konzept weiterzuverfolgen. "Wir brauchen nicht nur ein Konzept als solches, sondern wir müssen genau kalkulieren, wie realistisch die Umsetzung dieses Konzepts ist, auch durch Zusammenarbeit im militärisch-technischen Bereich. Wir müssen verstehen, mit wem wir wirklich militärisch-technische und verteidigungspolitische Beziehungen unterhalten können. Früher war das eine einfache Aufgabe, weil sich diese Frage nicht stellte, als 95-97% unserer Verteidigungsbeziehungen mit der Russischen Föderation unterhalten wurden. Heute ist dies jedoch nicht mehr der Fall, sowohl aus objektiven als auch aus subjektiven Gründen. Jetzt müssen wir verstehen, welche Art von Beziehungen wir mit Indien im Rahmen dieses Konzepts unterhalten können", erklärte Paschinjan.
Zur Klärung der Frage, ob Indien in der Frage der Waffenlieferungen als Diversifizierungsoption betrachtet wird, sagte Paschinjan: "Diversifizierung ist nur ein generelles Stichwort. Die Menschen haben es gehört und verstanden, aber bald werden sie anfangen, konkrete Fragen zu stellen. Welche Art von Sicherheitsbeziehungen werden wir zum Beispiel mit der Islamischen Republik Iran haben? Werden wir überhaupt welche mit ihnen haben oder nicht? Welche Sicherheitsbeziehungen werden wir mit Georgien haben? Welche Sicherheitsbeziehungen werden wir zu den Vereinigten Staaten haben? Werden wir überhaupt welche mit diesen Akteuren haben oder nicht? Werden sich unsere Sicherheitsbeziehungen zu Russland ändern oder nicht? Wie würden sie sich ändern? Werden wir letztendlich ein Mitglied der OVKS bleiben oder nicht? Welche Art von Beziehung bauen wir mit Frankreich auf? Das Problem ist, dass wir ein Sicherheitskonzept formulieren müssen, über dessen Umsetzung wir zumindest Einigkeit erzielen. Ich denke, wir sollten die Entwicklung dieses Konzepts im Laufe dieses Jahres abschließen.