Massenproteste gegen Sargsjan in Armenien
Seit mehr als einer Woche finden in Armenien massenhafte Proteste gegen die Premierministerschaft von Sersch Sargsjan statt, denen sich immer weitere Teile der Bevölkerung anschließen. Die Proteste konzentrieren sich auf die Hauptstadt Eriwan und die Stadt Gjumri. Die Protestteilnehmer, angeführt vom 42-jährigen Politiker Nikol Paschinjan, fordern den Rücktritt von Sargsjan, wie die Nachrichtenseite Radio Azatutyun berichtet. Im Zuge der jüngsten armenischen Verfassungsänderung wandelt sich das Land vom Präsidentialsystem zu einer parlamentarischen Demokratie, weshalb es im persönlichen Interesse des bisherigen Präsidenten Sargsjan liegt, Premierminister zu werden. Somit könnte er weiterhin die machtvollste Position des Landes füllen (Caucasus Watch hat im Vorfeld berichtet).
Nach Berichten der Nachrichtenseite News.am hielten die Proteste größeren Ausmaßes seit dem 16. April an, wobei mit jedem neuen Tag auch die Zahl der festgenommenen Demonstrationsteilnehmer angestiegen sei. Am 16. April sei es zu den ersten Auseinandersetzungen zwischen den Demonstranten und der Polizei gekommen, nachdem die Protestierenden eine polizeiliche Sperrung gestürmt hätten: dabei seien 46 Menschen in Krankenhäuser eingeliefert worden, darunter sechs Polizeibeamte. Auch der Anführer der Proteste, Nikol Paschinjan, habe sich dabei am Stacheldraht verletzt und sich kurzzeitig im Krankenhaus behandeln lassen müssen. Am 17. April habe die Polizei 82 Protestler festgenommen, am 18. April weitere 84 Menschen. Weitere Festnahmen seien am 19. April erfolgt, als 122 Teilnehmer einer Protestaktion verhaftet wurden, darunter auch 13 Minderjährige, wie News.am unter Bezugnahme auf die Pressestelle der armenischen Polizei berichtet. Am 20. April schließlich spricht die Seite unter Berufung auf die Polizeibehörde von 233 vorläufig festgenommenen Demonstranten.
Am selben Tag zitierte die Nachrichtenseite 1in.am eine Polizeierklärung, wonach die Protestbewegung mit einer gewaltsamen Auflösung zu rechnen habe, falls sich die nicht genehmigten Massenaktionen in der Stadt fortsetzen würden. Die Verantwortung für eventuelle Folgen einer gewaltsamen Auflösung der Demonstrationen lägen laut Polizei bei den Organisatoren der Proteste. Außerdem hätten Demonstranten die Durchfahrt eines Dienstwagens des Verteidigungsministers Vigen Sargsjan verhindert, was zu einer Auseinandersetzung mit seinen Leibwächtern geführt habe (Quelle: hetq.am). Auch im Ausland protestierten Armenier gegen Premierminister Sargsjan, wie zum Beispiel in Los Angeles (USA) und in mehreren Städten Frankreichs. In Marseille hätten Protestierende das armenische Konsulat gestürmt, wie die Nachrichtenseite Aravot berichtet.
Die massenhafte Unterstützung der Proteste durch breite Schichten der Bevölkerung ließen nach Ansicht der Nachrichtenseite Lragir.am der armenischen Regierung nur zwei Optionen übrig: entweder eine gewaltsame Auflösung, was zu Blutvergießen führen könnte, oder den Rücktritt von Sersch Sargsjan in Verbindung mit einer friedlichen Machtübergabe. Erst vor wenigen Tagen sei eine solche Option noch unmöglich erschienen, werde jetzt aber immer wahrscheinlicher. Die Regierung setze allerdings auf eine dritte Option: abwarten. Sie hoffe, dass die Energie der Protestbewegung verpuffe und der Anführer der Demonstranten, Nikol Paschinjan, entweder ermüde oder einen Fehler begehe, der die Gesellschaft gegen ihn aufbringen würde. Bisher hätten alle Protestbewegungen auf diese Weise geendet. Allerdings gehe Nikol Paschinjan durchdacht vor, und die Zahl seiner Anhänger sei angewachsen. Alleine die Tatsache, dass sich in Eriwan praktisch niemand der Protestbewegung widersetze oder sich über den Verkehrskollaps in der Hauptstadt empöre, zeige die Breitenwirksamkeit und Unterstützung der Proteste an. Das Niveau der Abneigung gegen die amtierende Regierung habe eine gefährliche Grenze erreicht, berichtet Lragir.am.
Hintergründe der Proteste
Am 11. April hatten Vertreter des Oppositionsblocks “Elk” (“Austritt”) als Zeichen des Protests gegen die Ernennung des ehemaligen Präsidenten Sersch Sargsjan zum neuen Premierminister während einer Parlamentssitzung ein Feuerwerk entzündet, wie die russische Nachrichtenseite TASS schreibt. Die Opposition hatte die Bevölkerung aufgerufen, sich am 13. April am Platz der Freiheit in Eriwan zu versammeln. Am selben Tag sperrten Mitglieder der vom Abgeordneten Nikol Paschinjan angeführten Oppositionspartei “Bürgervertrag” das Zentrum der armenischen Hauptstadt ab. “Wir werden hier übernachten: Die Opposition wird es nicht zulassen, dass Sargsjan Premierminister des Landes bleibt. Bis zum 17. April werden wir rund um die Uhr Protestaktionen durchführen”, erklärte der Politiker[TS3] . Auch das Gebäude des Öffentlichen Rundfunks in Eriwan war vorübergehend besetzt worden.
Am 15. April war die Zahl der Protestler und der Straßenblockaden in Eriwan weiter angestiegen. Am 16. April ordnete Paschinjan an, die Straßensperrungen aufzuheben und forderte die Menschen dazu auf, sich auf den Platz Frankreichs im Stadtzentrum zu verlagern. Dort sollte die Menschenmenge die Ernennung des ehemaligen Präsidenten Sargsjan zum Premierminister durch das Parlament verhindern. Trotz der Aktionen der Opposition hat das Parlament aber Sargsjan am 17. April mit 77 zu 17 Stimmen eindeutig zum Premierminister gewählt. Daraufhin erklärte Paschinjan, eine friedliche, “samtene Revolution” einleiten zu wollen.
Aufrufe zum Dialog durch den Präsidenten Armen Sarkisjan
Der Pressesprecher der Regierungspartei, Eduard Scharmasanov, schloss Zugeständnisse an die Protestbewegung aus: “Um Zugeständnisse zu machen, muss es eine politische Agenda geben. Diese gibt es aber nicht. Das Motto ‚Weise Sersch zurück’ ist keine politische Agenda”, zitiert die Nachrichtenseite Aravot den Sprecher der regierenden Republikanischen Partei Armeniens. Der Präsident Armeniens, Armen Sarkisjan, rief die Protestierenden dazu auf, den Dialog mit der Regierung zu suchen (Panorama.am). Dabei berief er sich auf den Vorschlag der Partei “Daschnakzutjun”, unter der Schirmherrschaft des Präsidenten eine Plattform für Konsultationen zu schaffen und einen Ausweg aus der derzeitigen Situation zu suchen. Der Premierminister Sersch Sargsjan, gegen den sich der Protest eigentlich richtet, hatte in einem Interview für den Fernsehsender “Shant” geäußert, dass er nicht möchte, dass es zur Ausübung von Gewalt durch die Sicherheitsbehörden kommt (News.am). Allerdings sei der Premierminister strikt dagegen, dass die öffentliche Ordnung im Land außer Kontrolle gerate. Wie Eurasia Daily berichtet, habe Sargsjan inzwischen auf seinen Anspruch auf eine eigene Residenz verzichtet, was ihm als ehemaligem Präsidenten laut Verfassung eigentlich zustehe.
Reaktion von Sersch Sargsjan
Der armenische Premierminister warnte in einem Statement Nikol Paschinjan davor, dass die Proteste unberechenbare Folgen haben und den brüchigen Frieden in der Gesellschaft gefährden könnten. Sargsjan rief seinen Herausforderer zu unverzüglichem Dialog auf, wie Azatutyun.am berichtet. Gleichzeitig gab der Staatliche Sicherheitsdienst Armeniens bekannt, mehrere gegen Polizeibeamte gerichtete Terroranschläge vereitelt zu haben, die zum Ziel hatten, eine Atmosphäre von Angst und Chaos im Land zu schüren. Im Zusammenhang mit diesem angeblich verhinderten Terroranschlag seien sechs armenische Staatsbürger festgenommen worden. Der Sicherheitsdienst weist darauf hin, dass zwei der Festgenommenen Verbindungen zur militanten Gruppe “Sasna Tsrer” gehabt hätten. Deren Anführer Zhirajr Sefiljan sowie weitere Mitglieder waren in diesem Jahr wegen der Vorbereitung eines Staatsumsturzes sowie wegen bewaffneten Überfalls eines Polizeireviers in Eriwan im Sommer 2016 zu langjährigen Haftstrafen verurteilt worden.
Was will der Anführer der Proteste?
Laut Paschinjan sei es zu spät, über Dialog zu sprechen, berichtet Azatutyun. Über einige Themen wäre seine Bewegung aber dennoch bereit, zu sprechen: “Wir sind natürlich bereit, die Frist des Rücktritts von Sersch Sargsjan und einige damit verbundene Bedingungen zu besprechen. Und – ich denke, Sie werden mir da alle zustimmen – ich kann sagen, dass wir keine Rache fordern. Es wäre von Nutzen, wenn Sersch Sargsjan schnellstmöglich zurücktritt – sowohl für ihn persönlich, als auch für die Republik Armenien”, erklärte der Politiker vor seinen Anhängern. Angesichts des jüngsten Statements von Sersch Sargsjan stimmte Nikol Paschinjan dem Premierminister zu, dass die Ereignisse unumkehrbare Folgen haben könnten. Um dies zu vermeiden, solle Sargsjan alle Bedingungen der Opposition ohne Verzögerung akzeptieren, so der Politiker.
Weiterhin fasste der Anführer der Proteste seine Forderungen in vier Punkten zusammen: 1) Sersch Sargsjan muss vom Amt des Premierministers zurücktreten, 2) Das Parlament wählt einen Volksvertreter als Premierminister, 3) Eine Übergangsregierung wird gebildet, 4) Innerhalb von 20 Tagen nach der Bildung der Übergangsregierung soll diese laut Gesetz ein eigenes Programm aufstellen. In Abstimmung mit den politischen Parteien werde das Parlament dieses Programm nicht verabschieden, was automatisch zur Durchführung von vorgezogenen Parlamentswahlen führen werde, so das Kalkül. Laut der Nachrichtenseite Panorama.am rechne Paschinjan damit, dass der Sieg der “samtenen Revolution” sehr nahe sei und die Regierung die Kontrolle über die Situation im Lande verloren habe.
Internationale Reaktionen
Bisher sind die internationalen Reaktionen sowohl Russlands als auch des Westens verhalten. Russlands Außenministerium äußerte ließ in einem kurzen Statement seiner Pressesprecherin Maria Sacharowa über Sputnik Armenien zuversichtlich, dass die aktuellen Prozesse in Armenien “demokratisch und im Bereich des Rechts” geregelt würden. Die US-Botschaft in Armenien äußerte auf Facebook Zufriedenheit über die überwiegend gewaltfreie verlaufenden Proteste und drückte gleichzeitig ihre Besorgnis über die Meldungen sporadischer Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Polizei aus.