Edmon Marukjan: "Wir leben in einer feindlichen Umgebung"

| Interviews, Armenien

In einem exklusiven Interview mit Caucasus Watch sprach der Vorsitzende der Fraktion „Helles Armenien“, Edmon Marukjan, über die politische Situation in Armenien während der Covid-19-Pandemie.

Was waren die Erwartungen der armenischen Bevölkerung an die Revolution und konnte die Regierung sie erfüllen?

E.M.: Bis vor kurzem hatte die armenische Gesellschaft sehr hohe Erwartungen an den Oppositionsführer und sein Team. Warum richten die Menschen ihre Hoffnungen und Überzeugungen immer noch an den Oppositionsführer und nicht an den Premierminister? Wegen des Dualismus seiner Aktivitäten in der „Periode Vor- und nach der Regierung“… Die Rhetorik des Oppositionsführers Nikol Paschinjan war voller Versprechen in Bezug auf die Notwendigkeit einer sofortigen Umsetzung radikaler Reformen in fast allen Lebensbereichen, insbesondere in sozioökonomischen Bereichen und im Justizsystem.

Ich habe wiederholt gesagt, dass die letzten zwei Jahre die „goldenen Jahre“ der gegenwärtigen Regierung waren, da diese eine „Carte Blanche“ hatte, um radikale Reformen in den oben genannten Bereichen durchzuführen, und es gab nichts und niemanden, was diesen Reformprozess hätte behindern können. Unmittelbar nach der Revolution waren wir sogar Zeugen von Aussagen, wonach Armenien sehr bald die Liste der bekannten Wirtschaftswunder fortsetzen würde. Die neue Regierung nannte ihr erstes politisches Programm eine „Wirtschaftsrevolution“, die sich gegen ein Defizit von Wettbewerb richtet und für Chancengleichheit, Auslandsinvestitionen, Gerechtigkeit einsetzt. Die Regierung lehnte die Argumente der Vorgängerregierung ab, welche zur Rechtfertigung von bestehenden sozioökonomischen Misserfolgen auf externe geoökonomische Realitäten hinwies. Tatsächlich hatte dieses politische Programm jedoch so viele funktionale Unsicherheiten, dass selbst Personen mit sehr einfachen wirtschaftlichen Kenntnissen keinen positiven Einfluss dieses Programms erwarten konnten, und es nicht als eine treibende Kraft für die Umsetzung radikaler Reformen betrachteten.

Was die Gesellschaft anbelangt, so glaubten die Menschen, dass sie infolge der Reformen in sehr kurzer Zeit die Arbeitslosigkeit überwinden, nicht mehr ins Ausland auswandern und schließlich die Chance haben würden, sich sozioökonomisch zu „rehabilitieren“.

Leider zeigen die Qualität der Aktivitäten der Regierung und die schlechte parlamentarische Aufsicht, dass die derzeitige Regierungskoalition „Mein Schritt“ und ihr Anführer Nikol Paschinjan, die Erwartungen der Öffentlichkeit nicht erfüllen und eigene Versprechen nicht umsetzen können. Was haben wir jetzt als Ergebnis? Wir haben eine Aufteilung der armenischen Bevölkerung in folgende Segmente: 1) Anhänger von Nikol Paschinjan und 2) Anhänger der Revolution.

Im ersten Fall haben Anhänger von Paschinjan und er selbst die öffentliche Ordnung auf der Grundlage des Ruhms der Durchführung der Revolution und der Fähigkeit, das alte System abzulehnen, gestaltet. Tatsache ist leider, dass sie nicht im Rahmen der gegenwärtigen realen Politik leben und arbeiten können, die neuen bodenständigen Herausforderungen begegnet. Sie durchlaufen einen Teufelskreis, in dem sie die Vergangenheit ablehnen und sich gleichzeitig mit ihr vergleichen. 

Was den zweiten Fall betrifft, so behaupten Anhänger der Revolution, Folgeaktivitäten für die Revolution zu entwickeln, die es nicht erlauben würden, von definierten Grundideen und Werten abzuweichen, und die die das alte System von Klientelismus, Mäzenatentum und Korruption ablehnen. Diese behaupten, dass sich daraus zwangsläufig die Institution der demokratischen Staatsbürgerschaft entwickelt.

Können Sie Faktoren nennen, die das Versagen der Regierung bei der Erfüllung der Erwartungen der Öffentlichkeit bedingen?

Leider ist dies aufgrund der Personalpolitik sowie der künstlichen und populistischen Agenda, die nicht die tatsächlichen Probleme und Herausforderungen der armenischen Gesellschaft widerspiegelt, nicht geschehen. Es ist der richtige Zeitpunkt zu sagen, dass Nikol Paschinjan und sein Team aufgrund ihrer eigenen Bemühungen die während der Revolution gewonnenen Zustimmung verschwendet haben und es vorerst zu schwierig oder sogar unmöglich sein wird, diese wiederherzustellen. Die sozioökonomischen Reformen sind auf der rhetorischen Ebene geblieben. Was den Justizsektor betrifft, so werfen die diesbezüglichen Entwicklungen mehr Bedenken auf als in der vorrevolutionären Zeit. Einer der Beweise für Letzteres ist das Verfassungsreferendum, das auf unbestimmte Zeit verschoben wird…

Hatten Sie nach der Samtenen Revolution irgendwelche Erwartungen an die Regierung?

E.M.: Ja, bis letzte Woche erwarteten wir weiterhin einen politischen Willen zur Entwicklung einer Kooperationskultur für die Umsetzung einer integrativen und wettbewerbsfähigen öffentlichen Politik, deren Ziel die soziale Stärkung der Gesellschaft und die Gewährleistung einer demokratischen Konsolidierung ist. Wir kämpfen in der Tat für die politische Macht, dies ist unser Ziel als politische Opposition, gleichzeitig haben wir nie auf das Scheitern der gegenwärtigen Regierung abgezielt, denn ein vollständiges und irreversibles Versagen wäre eine Katastrophe gewesen für das Land. In allen demokratischen Staaten haben weder die Opposition noch die Regierung das Recht und die Zeit, irreparable Fehler zu machen.

Wie effizient bewältigt die Regierung die aktuelle Krise?

E.M.: Die offizielle Reaktion auf die Pandemie war von Anfang an unverhältnismäßig. Als Armenien am 1. März seinen ersten Fall von COVID-19 registrierte, führte das regierende politische Bündnis „Mein Schritt” unter Paschinjans Führung eine politische Kampagne des Verfassungsreferendums in den Regionen durch. Nach der Ankündigung der WHO zur Pandemie am 12. März wurde die nationale Ausgangssperre in Armenien am 17. März vollständig umgesetzt.

Bis jetzt hat die armenische Regierung 17 Unterstützungsprogramme initiiert, um die schwierige sozioökonomische Situation im Land zu überwinden, deren Ausgaben über 70 Milliarden armenische Drams betragen. Es wäre jedoch wichtig, die Wirksamkeit der Programme anhand ihrer wesentlichen Merkmalen und nicht an ihrer Menge zu messen. Nikol Paschinjan selbst bekräftigte die eben genannte Frage nach der Effizienz der Unterstützungsprogramme hinsichtlich der Auswahl schutzbedürftiger Gruppen, der richtigen Adressaten usw. Während seines Live-Videos über Facebook hat er die Unterstützung der Bürger gefordert und sie aufgefordert, das Geld unter ihren bedürftigen Nachbarn umzuverteilen ... Darüber hinaus erklärte er während der jüngsten Plenarsitzung, dass Abgeordnete auch Erstattungen für Versorgungsleistungen erhalten haben, aber falls sie dieses Geld nicht wirklich brauchen sollten, können sie in Erwägung ziehen, es unter den armen Familien zu verteilen…

Was ist Ihre Investition in den Prozess der Unterstützung der Bürger in diesen schwierigen Zeiten?

E.M.: Vom ersten Tag an war das gesamte Team von Parteivertretern, Assistenten und Experten an dem Prozess beteiligt, den Bürgern soziale Unterstützung zu bieten, indem sie verfügbare Informationen zur Beantragung der Sozial- und Wirtschaftsprogramme bereitstellten. Unsere Mitarbeiter nehmen täglich Tausende von Anrufen entgegen und tätigen Anrufe. In den ersten Tagen wollten die Menschen Informationen über die Programme erhalten und wissen, ob sie von den Programmen begünstigt werden. Derzeit gibt es eine Welle der Aggression, da die meisten von ihnen sich aus technischen (unvollständige Datenbank, fehlender Zugang zu Internet oder keine Smartphones) und inhaltlichen (Anwendungsbedingungen) Gründen nicht auf die Programme bewerben konnten.

Angesichts der schwierigen sozioökonomischen Situation sowie der Tatsache, dass Einsparungen im Staatshaushalt durchgeführt wurden, haben wir einen Vorschlag zur Bereitstellung von 100.000 Drams an 500.000 Familien vorgelegt. Dieser Ansatz basiert auf dem induktiven Denken mit dem Ziel, das Prinzip der Ausgrenzung anzuwenden und auf die Bedürftigen abzuzielen. Gegenwärtig wurden die Beschränkungen gelockert, um die wirtschaftlichen Aktivitäten im ganzen Land wieder in Gang zu setzen. Das Problem ist jedoch, dass sich die Infektionsfälle täglich vervielfachen und die Prognosen ziemlich besorgniserregend sind. In einer solchen Situation ist die Aufweichung der Beschränkungen ein weiterer guter Beweis für die Ineffizienz der oben genannten Unterstützungsprogramme während der Pandemie. Leider werden dieser Vorschlag sowie die anderen von der parlamentarischen Opposition vorgebrachten Vorschläge entweder als nicht relevant oder als populistisch eingestuft.

Verfügt die parlamentarische Opposition über genügend legislative Mechanismen, um die Mehrheit auszugleichen?

E.M.: Leider nein, und wir können auch in vergleichender Perspektive keine diesbezüglichen Änderungen verzeichnen. Unmittelbar nach der Revolution dachten wir, dass die derzeitige Regierung die Rolle der parlamentarischen Opposition erweitern würde, da wir vor nicht allzu langer Zeit als Vertreter des YELQ-Bündnisses gemeinsam für einen effizienten parlamentarischen Ablauf kämpften, aber sie initiierten keinerlei Schritte in dieser Hinsicht. Sie haben sich in die unkontrollierbare und freizügige Natur der Macht „verliebt” ... Es mag ironisch klingen, aber ich möchte erwähnen, dass wir trotz der Tausenden von Todesfällen infolge von COVID-19 zugeben müssen, dass das Coronavirus  neue Möglichkeiten dafür bietet und dies ist zu einer echten Herausforderung für die demokratische Konsolidierung geworden. Der neueste Beweis dafür war der vom Justizministerium am 30. März vorgelegte Gesetzesentwurf, wonach die Regierung das Recht hat, die Daten der Handynutzer einschließlich des Standorts, der von ihnen angerufenen Nummern und des Zeitpunkts der Anrufe zu sammeln, um die Verbreitung von Infektionen zu verhindern. Wir haben viele berechtigte Argumente formuliert und vorgebracht, warum Armenien die Anrufe und Standorte der Menschen nicht nachverfolgen muss, und gezeigt, dass es keinen Einfluss auf die Pandemie hat und den Schutz privater Daten unterwandern würde. Leider sind wir gescheitert.

Zur Überraschung der Regierung und der parlamentarischen Mehrheit scheiterte der Gesetzentwurf in seiner zweiten Lesung am 31. März und erhielt nur 65 der 67 Stimmen, die er für die Verabschiedung benötigte. Nur Mitglieder der Mehrheitskoalition „Mein Schritt“ stimmten dafür, und mehrere Mitglieder konnten nicht teilnehmen, da sie die Präsidentschaftswahlen in Bergkarabach beobachteten. Nach der Abstimmung war die frühe Parlamentssitzung beendet. Die Regierung und „Mein Schritt” gruppierten sich jedoch einige Stunden später schnell neu und beriefen eine Notfallsitzung ein. Der gleiche Gesetzentwurf wurde am selben Tag wieder eingeführt, und die erste Lesung dazu fand statt, ohne dass Oppositionsparteien anwesend waren. Die Notfallsitzung begann um 17 Uhr und wir wurden um 17:05 Uhr darüber informiert. Wir und unsere Kollegen von der Fraktion „Wohlhabendes Armenien” haben beschlossen, nicht teilzunehmen, da es für uns schwierig sein würde, unsere Kollegen in dieser kurzen Zeit zu sammeln, und es keinen Sinn ergab. Von Seiten der Regierung wurde unsere Nichthandlung der lokalen und internationalen Gemeinschaft als mangelndes Interesse gegenüber dem menschlichen Leben präsentiert.

Später, einen Tag nach der Verabschiedung des Gesetzes, sandte ein Abgeordneter unserer Fraktion, Armen Yeghiazarjan, Anfragen an die in Armenien tätigen Mobilfunkbetreiber, um zu verstehen, ob diese Organisationen über die erforderlichen digitalen Mittel verfügen, um den Standort und die Anrufe von Personen zu verfolgen. Zu unserer Überraschung verfügt keiner der Mobilfunkbetreiber (Ucom, Beeline, Vivacell) über die erforderlichen Tools…

Das oben Genannte ist nicht der erste und wird auch nicht der der letzte Fall sein. Darüber hinaus kann diese Situation als Versuch angesehen werden, eine Delegitimierung der politischen Opposition im Land einzuleiten.

Wie beurteilen Sie die Entwicklung von Hassreden und wachsender politischer Intoleranz im Parlament?

E.M.: Derzeit leben wir in einer feindlichen Umgebung. Nach der Revolution während der ersten Welle der Kritik an den Regierungsaktivitäten begannen wir Zeugen des Anstiegs politischer Intoleranz und Hassreden zu werden… Infolgedessen wurde die armenische Gesellschaft in „Weiße und Schwarze“, Revolutionäre und Anti-Revolutionäre aufgespalten. Es ist leicht, verleumderische Kommentare gegenüber jedem zu finden, der berechtigte Kritik äußert. Dieser Hassdiskurs ist überall, auf Facebook, auf der Straße, im Parlament ... Wenn wir die Dynamik von Hassreden und politischer Polarisierung aus einer vergleichenden Perspektive betrachten, kann ich sagen, dass man vor der Revolution nicht zum Ziel öffentlicher Verleumdung wurde, da es sehr beliebt war, die früheren Autoritäten zu kritisieren. Im Gegensatz zur Vergangenheit ist es derzeit jedoch sehr angesagt, konstruktive Kritik in eine Hassdebatte zu verwandeln.

In den letzten zwei Wochen ist das lokale und internationale Publikum Zeuge eines handfesten Hasskrieges im Parlament geworden. Es explodierte am 28. April während der Parlamentssitzung, als auf die Kritik einer unserer Abgeordneten, Ani Samsonjan, der stellvertretende Parlamentsvorsitzende Alen Simonjan eine sexistische Rede hielt. Es war ein weiterer Fall von Provokation, der von unserer Seite nicht unbeantwortet belassen werden konnte. Der letzte Fall war am 8. Mai, als erneut im Rahmen der Diskussion über die Verabschiedung des Staatshaushalts von 2019 die von mir und meinen Kollegen vorgebrachte Kritik mit dem Versuch unterbrochen wurde, mich für das zu schlagen, was ich zu den Abgeordnete der Regierungspartei zu sagen hatte.

Ich habe die detaillierten Informationen zu dem Vorfall bereits verbreitet und fordere noch einmal alle unsere internationalen Partner, die mit Armenien zusammenarbeiten, auf, die Gewalt gegen die Opposition und alle Versuche, die Meinungsfreiheit zu unterdrücken, eindeutig zu verurteilen. Die derzeitige intolerante Positionierung des Premierministers und seines Teams gegenüber konstruktiver Kritik und Pluralismus sowie die aggressive Rhetorik stören die öffentliche Solidarität, untergraben die grundlegende Struktur der „Staatlichkeit“ und schädigen jedes einzelne Segment der öffentlichen Verwaltung ohne Ausnahme. Leider kann das Sprichwort „die Revolution ist wie Saturn, sie frisst ihre eigenen Kinder“, das ein allgemeines Sprichwort für die Französische Revolution war, auch viel über das postrevolutionäre Armenien sagen.

Für welche Agenda setzt sich die Partei „Helles Armenien“ derzeit ein?

E.M.: Die Partei „Helles Armenien“ setzt sich für die ununterbrochene Umsetzung von Reformen, die fortgesetzte Unterstützung der Bürger in diesen schwierigen Zeiten und natürlich für die parlamentarische Kontrolle über die Aktivitäten der Regierung ein. Wir können nicht zulassen, dass die Möglichkeiten der Regierungsbehörden zur Untergrabung der Stabilität des Landes verwirklicht werden. Derzeit sind dies die wichtigsten Punkte der staatlichen Agenda.

Interviewt von Magda Arsenyan

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