Armenien am Scheideweg: Paschinjans komplizierte Lage
Die „samtene Revolution“ in Armenien im Frühling diesen Jahres stellte das Land vor neue außenpolitische Herausforderungen. In Russland, das traditionell als Schutzmacht Armeniens gilt, ist man sich unsicher darüber, ob und inwiefern man der neuen armenischen Regierung vertrauen kann. Momentan werden die armenischen Außengrenzen mit der Türkei und dem Iran von russischen Soldaten geschützt und seit 1995 ist in der kleinen Kaukasusrepublik auch der 102. russische Militärstützpunkt mit ca. 5000 Soldaten stationiert. Das Land ist außerdem Mitglied in der Zollunion, der Eurasischen Wirtschaftsunion und der Organisation des Vertrags über Kollektive Sicherheit. Auf ein Assoziierungsabkommen mit der EU hatte Armenien unter dem ehemaligen Präsidenten, Sersch Sargsjan, zugunsten seines Beitritts in die Zollunion verzichtet. Nach der Revolution, die Sargsjans Regierung zum Fall brachte, wurde der Ton zwischen Moskau und Jerewan jedoch rauer.
Zuerst kam es zu einem Zwischenfall mit russischen Soldaten Mitte Juli, den der neue armenische Premierminister schnell als „Provokation“ bezeichnete. Einige Wochen später begann die strafrechtliche Verfolgung des amtierenden Generalsekretärs des russisch dominierten Militärbündnisses OVKS („Organisation des Vertrags über Kollektive Sicherheit“), Jurij Chatschaturow. Das sorgte für Unmut in Russland, so dass der Außenminister Sergej Lawrow seine Besorgnis über die Geschehnisse in der Kaukasusrepublik zum Ausdruck brachte. Auch die im Sommer eingeleiteten Ermittlungen gegen den zweiten Präsidenten Armeniens, Robert Kotscharjan, der als russlandtreuer Politiker gilt und im Direktorenrat des russischen Konzerns „AFK Sistema“ sitzt, dürften in Moskau wohl kaum gut ankommen sein. Darüber hinaus lehnte die russische Justizbehörde es ab, den ehemaligen Verteidigungsminister Mikael Harutjunjan, der aktuell in Russland lebt, an Armenien auszuliefern, nachdem die armenischen Behörden diesen vor einigen Tagen zur internationalen Fahndung ausgeschrieben hatten. Medienberichten zufolge ist Harutjunjan im Besitz der russischen Staatsangehörigkeit – und Russland liefert seine Staatsbürger grundsätzlich nicht an Fremdstaaten aus.
In den russischen Medien (siehe Moskowskij Komsomolets, Lenta.ru, EADaily) wird kritisch darauf hingewiesen, dass zumindest ein Teil der neuen armenischen Regierungsmannschaft „russlandfeindlich“ sei. Man erinnert zudem daran, dass Paschinjan selbst für den Austritt aus der Eurasischen Wirtschaftsunion geworben hatte, als er noch in der Opposition war. In seiner Funktion als Premierminister plädiert Paschinjan, ganz im Gegenteil, für eine Vertiefung der Beziehungen mit Russland und distanziert sich von seinen früheren Äußerungen. Die Verhältnisse mit Moskau seien derzeit besser als nie zuvor, behauptete Paschinjan am 10. September. Doch der Kreml scheint trotz alledem andere politische Präferenzen unter den politischen Kräften in Armenien zu haben.
Robert Kotscharjan als gefährlicher Gegner
Der zweite Präsident Armeniens, Robert Kotscharjan, der Ende Juli vorübergehend verhaftet, zwei Wochen später jedoch vom Berufungsgericht freigelassen wurde, hat bereits seine Rückkehr in die Politik angekündigt. Dem Politiker wird der „Sturz der Verfassungsordnung“ im Zusammenhang mit der umstrittenen Präsidentschaftswahl 2008 vorgeworfen. Er darf zurzeit das Land nicht verlassen. Von einigen Experten wird Kotscharjan als der gefährlichste Gegner des politisch weniger erfahrenen Premierministers betrachtet. Der Ex-Präsident ist in den armenischen und russischen Medien bestens vernetzt, verfügt über solide finanzielle Ressourcen, kommt aus Bergkarabach und hat einen direkten Draht zur russischen Landesführung. So meldete der Pressedienst des russischen Präsidenten, dass Wladimir Putin ihn am 31. August anrief, um ihm höchstpersönlich zum 64. Geburtstag zu gratulieren. Die guten persönlichen Verhältnisse zwischen Putin und Kotscharjan wurden nicht von den aktuellen Entwicklungen in Armenien beeinflusst, sagte Putins Pressesprecher Dmitrij Peskow. Allerdings gab es in den vorigen Jahren solche „Geburtstagsanrufe“ nicht, oder wurde darüber zumindest nicht über offizielle Kanäle berichtet. Die Tatsache, dass die angebliche persönliche Nähe zwischen Putin und Kotscharjan vor dem Hintergrund des wachsenden Misstrauens Russlands gegenüber Paschinjan nun verstärkt ans Licht kommt, lässt Raum für Spekulationen darüber, ob es sich dabei nicht um ein politisches Signal handelt. Darüber hinaus gab Kotscharjan zwei ausführliche Interviews für den russischen Fernsehsender „NTV“ und die Medienagentur „Sputnik“. Diese beiden Gespräche, die ohne eine einzige kritische Nachfrage seitens der Journalisten verliefen, nutzte Kotscharjan als Gelegenheit dafür, die neue Regierung auf das Schärfste zu kritisieren, unter anderem, wegen ihrer angeblichen Fehler in den Beziehungen mit Russland.
Kotscharjan, dessen Name mit der blutigen Niederschlagung der Massenproteste im März 2008 in Verbindung gebracht wird, ist in Armenien unbeliebt. Doch er spielt auf Zeit. Je länger die Regierung unter Nikol Paschinjan keine bedeutenden politischen und wirtschaftlichen Erfolge vorweist, desto stärker wird der innenpolitische Druck auf die armenischen Revolutionäre.
Keine klare Position im Konflikt um Bergkarabach
Auch die widersprüchliche Position Paschinjans im Bergkarabach-Konflikt könnte ihm zum Verhängnis werden, denn diese Frage ist äußerst sensibel für Armenien. Zuerst hatte er erklärt, dass er nicht im Namen der Bergkarabach-Armenier Friedensverhandlungen mit Aserbaidschan führen könne und die Bedingung gestellt, dass die nicht anerkannte Bergkarabach-Republik direkt an den Verhandlungen mit Aserbaidschan teilnimmt. Auch seinen jüngeren Sohn schickte er zum Militärdienst nach Bergkarabach, was in Jerewan als „patriotisch“ angepriesen und in Baku als „populistisch“ verurteilt wurde.
Am 8. September, bei einem Treffen mit armenischen Geschäftsleuten in Moskau, sagte Paschinjan, dass er Bergkarabach als „Teil Armeniens“ betrachte, was ihn zwar als „Hardliner“ zeigt, jedoch der bisherigen Verhandlungsposition Armeniens zuwiderläuft. Denn in der armenischen Interpretation gilt die abtrünnige Region als unabhängiger Staat. Und im Interview für „Kommersant“ sagte Paschinjan kürzlich, dass auch die besetzten aserbaidschanischen Gebiete um die Enklave herum „verfassungsgemäß der Republik von Bergkarabach“ angehören. Auf eine Nachfrage des Journalisten, worüber man dann überhaupt noch verhandeln könne, antwortete Paschinjan, dass jegliche Gespräche über Konzessionen seitens Armeniens als Schwäche empfunden werden könnten. Er warf in diesem Kontext Aserbaidschan vor, kriegerische Rhetorik zu verwenden. Die innenpolitischen Gegner Paschinjans kritisieren, dass seine Politik in der Frage von Bergkarabach nicht konsequent sei.
In Aserbaidschan wird Paschinjan als Verhandlungspartner offenbar noch nicht ernst genug genommen – Baku möchte keine Verhandlungen mit Jerewan auf der höchsten Ebene führen, bis sich die innenpolitische Situation im Nachbarland stabilisiert hat. Die außerordentlichen Parlamentswahlen könnten laut Paschinjan noch in diesem Jahr, spätestens aber im Mai 2019 stattfinden. Erst nachdem sich Paschinjan durch die Wahlen legitimiert hat, wird er als vollwertiger Entscheidungsträger in Aserbaidschan betrachtet werden.
Derzeit verhält sich Baku eher zurückhaltend, schließt aber grundsätzlich nicht aus, dass mit „den neuen politischen Kräften in Armenien“ der ins Stocken geratene Friedensprozess in Schwung gebracht werden könnte. Die Lage an der Waffenstillstandslinie blieb in den vergangenen Monaten relativ ruhig. Dabei haben sich die Treffen zwischen Alijew und Putin intensiviert: Am 1. September war das aserbaidschanische Staatsoberhaupt zum offiziellen Besuch in Sotchi und Ende September wird ein Besuch Putins in Baku erwartet. Außerdem wird in den aserbaidschanischen Medien eine Diskussion über den Beitritt Aserbaidschans in die OVKS geführt, die durch ein entsprechendes Statement des Abgeordneten der Regierungspartei, Ali Huseynov, ausgelöst wurde.
Massendemonstrationen als einzige Quelle der politischen Legitimation
Paschinjan hat die kleinste Fraktion und somit stark eingeschränkte Handlungsmöglichkeiten im Parlament. Zwar koaliert er derzeit mit der Fraktion des Oligarchen Gagik Tsarukjan, jedoch handelt es sich hier um einen rein machtpolitischen Zusammenschluss. Abgesehen von der eigenen Fraktion kann er sich auf keine der anderen im Parlament vertretenen Parteien verlassen. „Einige politische Kräfte möchten die Revolution sabotieren, indem sie mit der Republikanischen Partei Armeniens (RPA) paktieren“, erklärte er am 10. September. Die größte Fraktion im Parlament setzt sich aus den Abgeordneten der ehemaligen Regierungspartei RPA zusammen. Dies möchte die neue Regierung ändern, indem sie das Parlament auflöst und neue Wahlen einberuft. Dieses Vorhaben Paschinjans hat aber noch keine Unterstützung der parlamentarischen Mehrheit.
Die zahlreichen Anhänger von Nikol Paschinjan, die er noch immer zu Massendemonstrationen mobilisieren kann, was seine 100-Tage-Demonstration im August zeigte, sind derzeit die einzige Quelle seiner politischen Legitimation, welche ihm ermöglicht, politische Gegner in Schach zu halten. In einer solch fragilen Lage, ist die neue armenische Regierung darum bemüht, diplomatische, politische und wirtschaftliche Unterstützung sowohl von Russland als auch der EU zu erhalten. So hat sich Paschinjan von der EU gewünscht, dass diese mehr Entwicklungsgelder für Armenien zur Verfügung stellt. Dieser Bitte kam die EU allerdings noch nicht nach.
Fehlendes Vertrauen aus Russland
Die zwei bisherigen Treffen und drei Telefonate zwischen Nikol Paschinjan und Wladimir Putin reichten auch offenbar nicht dafür, sich Moskaus Unterstützung zu sichern. Daher reiste Nikol Paschinjan am 8. September zum dritten Mal zu Putin. Der Assistent des russischen Präsidenten, Uschakow, sagte noch vor dem Treffen der beiden Staatschefs, dass Putin und Paschinjan „ein ehrliches und ernsthaftes Gespräch“ über die zahlreichen offenen Fragen führen würden.
Nach dem Treffen erklärte Paschinjan, dass die armenisch-russischen Beziehungen „brillant“ seien, eigentlich „so gut wie nie zuvor“. Zwischen Moskau und Jerewan bestünden keine Probleme, betonte der armenische Regierungschef. Paschinjan kündigte auch an, dass Armenien gemeinsam mit Russland eine humanitäre Mission in Syrien durchführen werde. Das scheint wohl das einzige praktische Ergebnis des Treffens zu sein, welches aber auch nicht ganz neu ist. Denn bereits bei der Massendemonstration anlässlich der ersten 100 Tage seiner Regierung hatte Paschinjan eine „beispiellose armenisch-russische Initiative“ im humanitären Bereich angekündigt.
Paschinjan und Putin haben sich auch über Gaspreise in Armenien und den Bergkarabach-Konflikt ausgetauscht. Nicht zuletzt ging es aber auch um die Zukunft des armenischen Vorsitzes in der OVKS. Die strafrechtliche Verfolgung des OSZE-Generalsekretärs, Jurij Chatschaturow, könnte dazu führen, dass der Vorsitz in der Organisation im Herbst 2018 auf Belarus übergehen wird. Paschinjans Regierung möchte ein solches Szenario mit allen Mitteln verhindern und beharrt darauf, dass der Posten des OVKS-Generalsekretärs Armenien bis 2020 zusteht und General Chatschaturow durch einen anderen armenischen Vertreter ersetzt werden muss. Sollte Armenien den Posten des Generalsekretärs in der Organisation tatsächlich verlieren, würde das als schwerwiegender außenpolitischer Misserfolg der neuen Regierung wahrgenommen und von Paschinjans Gegnern aufgegriffen werden. Nikol Paschinjan konnte am 8. September mit Putin offenbar keine Einigung in dieser Frage erzielen. Dieses Thema müsse mit allen OVKS-Mitgliedsstaaten (Russland, Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan, Belarus und Armenien) besprochen werden, sagte Paschinjan nach seinem Treffen mit Putin. „Wenn wir zu einem Konsens kommen, werden wir das mitteilen“, so Paschinjan im Interview mit der russischen Zeitung „Kommersant“.
Schon nach Paschinjans Besuch bei Putin machte sich „Kommersant“ in einem Artikel über die armenische Regierungsdelegation lustig, die „zahlreicher war als es die chinesische“ gewesen sei. Im Beitrag wird suggeriert, dass Paschinjans Mannschaft die Protokollregeln nicht kenne, während Paschinjan selbst den Stand der russisch-armenischen Beziehungen schönzureden versuche.
Anders als der armenische Regierungschef, kommentierte der Kreml die Ergebnisse des Treffens nicht. Doch drei Tage nach Paschinjans Russland-Reise wurden Mitschnitte von einem abgehörten Telefonat des Chefs des Nationalen Sicherheitsdienstes Armeniens, Artur Wanetsjan, mit dem Leiter des Sonderermittlungskomitees, Sasun Chatschatrjan, im Internet veröffentlicht. Aus diesen Mitschnitten, deren Echtheit bereits von Paschinjan selbst bestätigt wurde, geht klar hervor, dass der zuständige Richter deutliche politische Anweisungen von der Regierung erhalten hatte, Robert Kotscharjan und Jurij Chatschaturow zu verhaften. Dieser Skandal dürfte die neue Regierung schwer belasten. Wer die Telefonate der armenischen Geheimdienste abhörte und ins Internet gestellt hat, bleibt zunächst unklar.