Georgien: Die Ruhe nach dem Sturm?
Nach dem Vorfall des russischen Abgeordneten Sergej Gawrilow, der Massenproteste in Georgien auslöste und zu Sanktionen von Seiten Russlands führte, ist die georgische Gesellschaft zunehmend mit diesen raschen Veränderungen konfrontiert.
Der stellvertretende russische Außenminister, Grigorij Karasin, erklärte, die russische Regierung war bereit, die Visumpflicht für Georgien abzuschaffen, bevor sich der Vorfall ereignete. Er machte auch die Tätigkeit der georgischen Oppositionskräfte für die Entwicklung der Lage verantwortlich, die seiner Ansicht nach “alles Positive” gefährdet hätten, das in den russisch-georgischen Beziehungen seit 2012 gemeinsam geschaffen worden war.
Der „Sicherheitsdienst“ des besetzten Abchasiens gab am 27. Juni bekannt, dass der Enguri-Grenzübergang vorübergehend geschlossen wird. Infolge dieser Schließung der Grenzen versäumte die Mehrheit der im Gali-Distrikt des besetzten Abchasiens registrierten Schüler die Teilnahme an der ersten Fachprüfung am 1. Juli, die Teil der Einheitlichen Nationalen Prüfungen ist, einer Reihe bundesweiter Prüfungen, an denen jene Abiturienten, die an Universitäten studieren wollen, teilnehmen müssen. Von 185 angehenden Studenten aus dem Gali-Distrikt haben nur 6 die Grenze überschritten.
Die georgische Wirtschaft leidet weiterhin unter dem Flugverbot aus Russland, insbesondere im Bereich des Tourismus. Durch die Streichung von russisch-georgischen Direktflügen ist der Zustrom russischer Touristen spürbar zurückgegangen. „Von den 50 von russischen Bürgern gebuchten Gutscheinen wurden 45 storniert“, sagte Khatuna, Angestellte eines in Tiflis ansässigen Reiseveranstalters. Vor dem Hintergrund des Rückgangs der Touristenströme aus Russland beabsichtigt ihr Unternehmen, Touristen aus der Ukraine und Weißrussland aktiver anzulocken, aber die Bürger dieser Länder seien „nicht so zahlungsfähig wie Russen“, fügte sie hinzu.
Nach Angaben des World Travel and Tourism Council (WTTC) trug der Tourismus 2018 33,7% zum georgischen BIP bei, was über dem weltweiten Durchschnitt von 10,4% liegt. Der Tourismus ist auch eine Branche, die einen erheblichen Beitrag zur Beschäftigung in Georgien leistet und allein 2018 519.700 Arbeitsplätze in der georgischen Wirtschaft schaffte. Der Rückgang der russischen Touristen könnte einen der wichtigsten Wirtschaftszweige Georgiens erheblich beeinträchtigen.
Um diesem Problem zu begegnen, versucht die georgische Regierung, mehr Kunden aus westlichen Ländern anzuziehen. Am 1. Juli starteten MIR Corporation, einer der größten US-Reiseveranstalter, und National Geographic ein Kooperationsprojekt mit der georgischen Wirtschaftsministerin Natia Turnawa, um Touren für Touristen aus den USA, Kanada, Neuseeland und anderen englischsprachigen Ländern nach Georgien zu organisieren.
Was den Handel anbelangt, so könnten die Importe von Weizen und Meslin aus Russland zu den ersten Produkten gehören, auf die abgezielt werden könnte. Basierend auf den offiziellen Statistiken des Nationalen Statistikamts Georgiens für das Jahr 2018 wurden 575.000 Tonnen Weizen und Meslin nach Georgien importiert. 482.000 Tonnen kamen aus Russland, 88.865 Tonnen aus Kasachstan und nur ein kleiner Teil aus der Ukraine und der Türkei.
Einige Wirtschaftsexperten glauben, dass nach der Eskalation der Spannungen zwischen Georgien und Russland auch der Weizenexport nach Georgien betroffen sein könnte. Laut Ketewan Kublaschwili, Generaldirektor der Agricom Company, dem wichtigsten Weizenimporteur in Georgien, besteht heute die reale Gefahr, dass Russland ein Embargo für die Einfuhr von Weizen verhängt, nicht nur für die Einfuhr per LKW, sondern auch per Eisenbahn und Schiff. „In den letzten drei bis vier Jahren sind wir vollständig von russischem Weizen abhängig geworden. Nahezu 60% des aus Russland importierten Weizens kommt per LKW über den Zemo-Larsi-Checkpoint“, sagte sie. Levan Silagawa, Leiter der “Vereinigung der Weizengruppen”, ist der Ansicht, dass der wichtigste Hebel, den Russland einsetzen könnte, darin besteht, die Verfahren für die Dokumentenbeschaffung beim Export von Weizen zu verkomplizieren.
Auch die Einfuhr von Wein und anderen alkoholischen Getränken ist gefährdet. Russlands Verbraucherschutzbehörde warnte bereits vor einem vermeintlichen „Qualitätsrückgang“ der aus Georgien importierten Alkoholprodukte. Wein ist eine der Hauptindustrien Georgiens und Russland ist dessen Hauptkunde.
Auch der kulturelle Austausch zwischen beiden Ländern nimmt weiter ab. Die bekannte georgische Sängerin und Songwriterin, Nino Katamadse, kündigte als jüngste Künstlerin des Landes aus Protest gegen die russische Besatzung an, die Show-Termine in Russland abzusagen. In ihrem Facebook-Post (der jedoch später gelöscht wurde) sagte sie, dass ihre Show in Russland am 22. Juni die letzte in dem Land gewesen sei, und dass sie sich nur dazu bereit erklärt hatte, bei der Veranstaltung „wegen eines Sehbehinderten Neunjährigen“ aufzutreten. Giorgi Schwelidse, Gewinner des Spotlight Award der American Society of Cinematographers; Jazz-Talent Beka Gochiaschwili; und die Opernsängerin Ketewan Kemoklidse weigerten sich gemeinsam mit Katamadse, zukünftig nach Russland zu reisen.
Der Pressesprecher des russischen Präsidenten, Dmitri Peskow, forderte daraufhin alle russischen Künstler, die in Georgien auftreten wollten, auf, „über ihre Sicherheit nachzudenken“. In einem Kommentar zu Katamadses Post sagte Peskow: „Sie weiß wahrscheinlich nicht viel über Politik.“