In Georgien kommt es nach Provokation durch russischen Abgeordneten zu Massenprotesten
Am 20. Juni begannen in Georgien Massenproteste, als Sergej Gawrilow, ein Mitglied der russischen Duma der Kommunistischen Partei, bei der Interparlamentarischen Versammlung für Orthodoxie (IAO) auf Russisch vom Sitz des Vorsitzenden des georgischen Parlaments vor den anwesenden Delegierten sprach.
European Georgia und die United National Movement boykottierten als erste die Anwesenheit der russischen Delegation in Tiflis, wurden danach aber auch von anderen nichtparlamentarischen Gruppen, Aktivisten gegen die Besatzung und georgischen Bürgern unterstützt. Die Demonstranten kritisierten die georgische Regierung dafür, dass sie Gawrilow, der während des bewaffneten Konflikts in der russisch besetzten Region Abchasien im Jahr 1991 in Georgien „gekämpft und getötet“ hatte, ins Land und georgische Parlament ließ. Die Oppositionspartei United National Movement gab sogar ein einstündiges Ultimatum zur Entlassung des Parlamentspräsidenten Irakli Kobakhidse, des Innenministers Giorgi Gakharia und des Leiters des Staatssicherheitsdienstes Vakhtang Gomelauri.
Die Regierungsmitglieder, darunter der Vorsitzende von Georgian Dream, Bidsina Iwanischwili, Premierminister Mamuka Bakhtadse und inzwischen ehemaliger Parlamentspräsident Irakli Kobakhidse, verurteilten ebenfalls den Besuch der russischen Delegation und wiesen Gawrilows Handlung, den Vorsitz der Konferenz zu übernehmen, einem „Protokollfehler“ zu. „Wir haben die Entscheidung getroffen, dass die Versammlungsveranstaltung im georgischen Parlamentsgebäude nicht fortgesetzt wird, weil Gawrilow es ohne vorherige Vereinbarung gewagt hat, den Sitz des georgischen Parlamentssprechers zu besetzen, um vor dem Publikum zu sprechen. Die Sitzung hätte von einem griechischen Generalsekretär der Versammlung moderiert werden müssen, und es ist unklar, wie Gawrilow dazu kam auf dem Sitz zu reden“, sagte einer der Leiter des Georgian Dreams, Mamuka Mdinaradse.
Der Generalsekretär der Georgian Dream Partei und Bürgermeister von Tiflis, Kacha Kaladse, erklärte, dass es „alarmierend“ und "nicht in seinem Einverständnis“ sei, Gawrilow vor der hohen Tribüne des georgischen Parlaments zu sehen, was auch unter der georgischen Bevölkerung zu Protesten geführt habe. „Jetzt sollten wir [die Georgier] nicht so handeln, dass die Situation weiter eskaliert und der Feind dies für seine Interessen nutzen kann“, sagte er. „Die russische Delegation wird Georgien verlassen. Natürlich wird und kann die Konferenz nicht auf diese Weise fortgesetzt werden“, erklärte er und stellte fest, dass Georgien, „das seit 17 Jahrhunderten ein angesehenes Mitglied der orthodoxen Welt ist“, „jede mögliche Plattform für die Rückholung unseres Territoriums nutzt und für die Förderung der Interessen unseres Landes.“
Der Premierminister Mamuka Bakhtadse zeigte sich ebenfalls unzufrieden mit der sich abzeichnenden Situation. Er erklärte, dass es sehr schwierig für ihn sei, ein Mitglied der russischen Duma vom Sitz des georgischen Parlamentsvorsitzenden aus zu Wort kommen zu lassen. Er sagte, dass diese Tat nationale Interessen und das georgische Parlament beeinflusst. „Ich unterstütze voll und ganz den Protest des georgischen Volkes in Bezug auf den Vorfall und appelliere an die Organisatoren, die Gründe dafür zu erläutern und geeignete Maßnahmen zu ergreifen“, schrieb Bakhtadse.
Die georgische Präsidentin Salome Surabischwili schrieb auf ihrer Facebook-Seite, dass Russland Religion für politische Zwecke einsetzt. „Welche religiöse Verbindung und Beziehung kann es zu einem Land geben, das unsere und nicht nur unsere Territorien besetzt und gegen Religion und alle christlichen Traditionen kämpft? Ein Land, das es den orthodoxen georgischen Christen nicht erlaubt die Gräber ihrer Eltern zu besuchen und in ihren Kirchen zu beten“, stand in Surabischwilis Post.
Der Vertreter des georgischen Außenministeriums, Wladimir Konstantinidi, erklärte, dass das Außenministerium dem „fairen“ öffentlichen Protest gegen den Besuch der russischen Abgeordneten in Georgien zustimme. Er sagte, dass es eine Schlüsselpriorität für die Agentur sei, permanente Aufmerksamkeit auf das Thema der Besatzung zu lenken.
Die negative Reaktion kam nicht nur von georgischen Offiziellen, sondern auch von anderen Mitgliedsländern der IAO. Der ukrainische Botschafter in Georgien, Ihor Dolhow, verließ aus Protest vorübergehend die Interparlamentarische Versammlung für Orthodoxie, als der Abgeordnete des russischen Parlaments, Sergej Gawrilow, vor dem Publikum in Tiflis sprach. Dolhow sagte später vor den Journalisten, dass er sich weigere, den russischen Abgeordneten zuzuhören, da die Russische Föderation die Ukraine und Georgien weiterhin besetzt.
Das russische Außenministerium reagierte auf den Vorfall mit der Feststellung, dass Gawrilow das georgische Parlamentsgebäude „verlassen musste, als Radikale die Kontrolle ergriffen hatten“ (Hinweis auf die georgische Opposition). Das russische Parlament reagierte ebenfalls mit der Feststellung, dass vor dem Vorfall „fake news“ darüber verbreitet wurden, dass Gawrilow in den 1990er Jahren in der russisch besetzten Region Abchasien in Georgien kämpfte. „Gawrilow bestritt alle Vorwürfe zu seiner Teilnahme, da er nie an militärischen Konflikten teilgenommen hatte, und stellte fest, dass Russland und Georgien durch brüderliche orthodoxe Beziehungen verbunden sind“, heißt es in der offiziellen Erklärung des russischen Parlaments.
Gawrilow selbst behauptete, dass ihn „Radikale“ im georgischen Parlament mit Wasser begossen haben und versuchten, ihm seine Papiere mit Gewalt zu entreißen, aber dass er trotz des Vorfalls ruhig blieb. „Ich fühle mich nicht unwohl, ich bin sehr glücklich, in meiner Heimat zu sein. Das georgische Parlament hat mich eingeladen. Das Thema der Abhaltung der Sitzung der Interparlamentarischen Versammlung zur Orthodoxie in Tiflis wurde zwei Jahre lang erörtert. Wir glauben, dass Georgien gut vorbereitet ist. Unser Ziel ist es, Möglichkeiten für den Dialog zu finden. Die Hauptthemen beziehen sich auf die humanitäre und wirtschaftliche Zusammenarbeit sowie auf kulturelle und bildungsbezogene Themen. Während des letzten Jahres stiegen der Handelsumsatz und die Zahl der Touristen, aber es mangelt an humanitärer Zusammenarbeit. Die Grundlage für diese Art der Zusammenarbeit sind, wie Patriarch Ilia II sagte, Orthodoxie und orthodoxe Werte“, sagte er. Laut Gawrilow wurde er von der georgischen Delegation dazu eingeladen den Sitzplatz des georgischen Parlamentspräsidenten einzunehmen. Dies sei eine gängige Praxis, die auch dem Protokoll der Veranstaltung entsprach.
Der russische Parlamentspräsident Wolodin übte Kritik an der georgischen Regierung, weil sie weder den Ablauf der Veranstaltung noch die Sicherheit der russischen Delegation gewährleisten konnte.
Der Skandal mit dem russischen Abgeordneten im georgischen Parlament mündete in heftigen Straßenprotesten in Tiflis. Die wütenden Demonstranten, die der Opposition zuzuordnen sind, haben versucht das Parlamentsgebäude zu stürmen. Sie forderten den Rücktritt des Parlamentspräsidenten Irakli Kobachidse (dieser war zum Zeitpunkt des Vorfalls zu einem offiziellen Besuch in Aserbaidschan und musste seine Reise wegen der ausgebrochenen innenpolitischen Krisensituation abbrechen) sowie des Innenministers Georgi Gakharia. Der Innenminister erklärte sich dazu bereit zurückzutreten, „falls dies nötig” sein solle. Irakli Kobachidse wollte zuerst nicht auf die Forderungen nach seinem Rücktritt eingehen. Doch am 21. Juni trat er nach einer Krisensitzung der Regierungspartei zurück. Er wird nun von einem anderen Mitglied des “Georgischen Traums”, Artschil Tagawadse, abgelöst werden. Während der Proteste kam es zu schweren Zusammenstößen mit der Polizei. Die Polizei hat Tränengas, Gummigeschosse und Wasserwerfer gegen Demonstranten, die zum Teil mit Schlagstöcken bewaffnet waren, eingesetzt. Der georgische Ex-Präsident Micheil Saakaschwili, der sich derzeit in der Ukraine aufhält, rief die Georgier auf, „den Oligarchen Bidsina Iwanischwili” zu vertreiben. Auch die „von ihm gegründete Polizei” wurde von Saakaschwili aufgefordert, sich „auf die Seite des Volkes” zu schlagen. Der georgische Premierminister Mamuka Bachtadse warf dem Ex-Präsidenten vor, die Situation in Georgien destabilisieren und die Macht „usurpieren” zu wollen. Laut den Angaben des georgischen Gesundheitsministeriums wurden bei den Zusammenstößen 160 Zivilisten, darunter 32 Journalisten, und 80 Polizeibeamte verletzt. Zwei von Gummigeschossen verletzte Demonstranten erlitten schwere Augenverletzungen.
Die Botschaften der USA und Großbritanniens riefen alle Beteiligten dazu auf sich zu beruhigen. Auch der deutsche Botschafter, Hubert Knirsch, drückte seine Besorgnis aus und rief zu einer Deeskalation der Lage auf. Die georgische Orthodoxe Kirche verteidigte den Protest, distanzierte sich jedoch gleichzeitig von der von den Demonstranten ausgeübten Gewalt. „Es war der Fehler der Regierung, der in der Öffentlichkeit zu einem fairen und friedlichen Protest führte. Falsche Appelle haben jedoch die Art der Kundgebung verändert, sie gefährlich gemacht und die Menschen dazu ermutigt, das Parlamentsgebäude gewaltsam einzunehmen”, so das Patriarchat. Die georgische Kirche ist der Ansicht, dass die Regierung die Gründe für die Spannungen „dringend untersuchen“ muss, während die staatlichen Stellen, Experten und Medien unvoreingenommene Bewertungen der Geschehnisse liefern müssten.
Die Interparlamentarische Versammlung für Orthodoxie (IAO) ist ein interparlamentarisches Gremium, das auf Initiative des griechischen Parlaments eingerichtet wurde. Die grundlegenden Prinzipien der IAO sind im Manifest der Teilnehmer der vom griechischen Parlament in Chalkidiki einberufenen Konferenz zum Thema „Orthodoxie in der neuen europäischen Realität“ zum Ausdruck gebracht worden. Demnach stellt die Orthodoxie in ihrem sozialen, historischen und geistigen Sinn eine gemeinsame kulturelle Tradition und einen gemeinsamen religiösen Ausdruck für etwa die Hälfte der europäischen Bevölkerung dar und ist somit eine kulturelle Voraussetzung für die Gestaltung des heutigen Europas. Die IAO versammelt parlamentarische Mitglieder aus Albanien, Armenien, Weißrussland, Bulgarien, Zypern, der Tschechischen Republik, Estland, Finnland, Georgien, Griechenland, Kasachstan, Lettland, Litauen, Moldau, Polen, Rumänien, Russland, Serbien, Montenegro, der Slowakei und der Ukraine sowie Fraktionen von Abgeordneten aus: Australien, Asien, Afrika und den USA.