Neuer Krieg um Bergkarabach

Am 27. September früh morgens berichtete das Verteidigungsministerium Aserbaidschans über den massiven Beschuss von aserbaidschanischen Provinzen entlang der Waffenstillstandslinie in Bergkarabach unter Einsatz schwerer Artillerie. Laut der Meldung kam es zu Opfern sowohl unter der Zivilbevölkerung, als auch beim Militär. Im Anschluss daran erklärte das Verteidigungsministerium den Start einer Gegenoffensive entlang der gesamten Frontlinie durch die Einheiten der aserbaidschanischen Armee, um die Kampfhandlungen der Streitkräfte Armeniens zu unterbinden und die Sicherheit der Zivilbevölkerung zu gewährleisten.

Der armenische Premierminister Nikol Paschinjan teilte seinerseits mit, dass aserbaidschanische Streitkräfte die Eskalation provoziert, und eine Offensive in Bergkarabach gestartet hätten. Bei seinem Auftritt im armenischen Parlament wurde Paschinjan von Vertretern der Partei „Helles Armenien“ nach Möglichkeiten der Anerkennung von Bergkarabach als unabhängigen Staat im aktuellen Kontext gefragt. Einer direkten Antwort auf diese Frage wich Paschinjan jedoch aus. 

Im Laufe des Tages erklärte das Verteidigungsministerium Armeniens, dass die armenischen Streitkräfte mehrere aserbaidschanische Hubschrauber und Drohnen abgeschossen sowie mehrere Panzer zerstört hätten. Das aserbaidschanische Verteidigungsministerium wies diese Behauptung zurück. 

Verluste 

Das armenische Verteidigungsministerium teilte mit, dass bei den militärischen Auseinandersetzungen 31 armenische Soldaten getötet. Laut früheren Meldungen sind über 100 Weitere verletzt worden. Aserbaidschan spricht hingegen von über 550 getöteten armenischen Soldaten und zahlreichen Verlusten in Militärtechnik. Es wurde auch behauptet, dass das Luftabwehrsystem S-300 in Bergkarabach zerstört wurde, was die Luftverteidigung der armenischen Armee in Bergkarabach wesentlich schwächen könnte. 

Was Aserbaidschans militärische Verluste angeht, gibt es diesbezüglich bisher keine eindeutigen offiziellen Erklärungen oder genaue Zahlen der Todesopfer, obwohl Baku offiziell jedoch zugegeben hat, Verluste erlitten zu haben. Die Pressestelle des Verteidigungsministeriums Aserbaidschans meldete lediglich, dass bei den Gefechten ein Soldat getötet, und ein weiterer leicht verletzt wurde. Armenien geht von bis zu 200 getöteten und verletzten gegnerischen Soldaten aus.  

Änderungen am Verlauf der Frontlinie 

Gegen Mittag berichtete die Pressestelle des aserbaidschanischen Verteidigungsministeriums über die Übernahme von mehreren Dörfern in Bergkarabach: Garachanbejli, Gervend, Goradis, Yuhari Abdurrachmali, Böyük Mardschanli und Nuzgar in den Provinzen Füsuli und Dschebrail. Außerdem wurden nach Angaben der aserbaidschanischen Armee zwölf Flugabwehrraketensysteme („OSA”) der armenischen Luftverteidigungseinheiten in verschiedenen Regionen zerstört. Daraufhin wandte sich Aserbaidschans Staatschef Alijew an das Volk und machte Armenien für die Zuspitzung der Lage an der Front verantwortlich. In seiner Ansprache an die Bevölkerung versprach Alijew, alles Mögliche zu unternehmen, „um ihre Rückkehr in ihre Heimatgebiete zu ermöglichen“.

Die armenische Seite hat offiziell den Kontrollverlust über Territorien im Süden in Richtung Talysch zugegeben, ohne dabei ins Detail zu gehen.

Lage der Zivilbevölkerung 

Was die zivilen Opfer angeht, teilte die Generalstaatsanwaltschaft Aserbaidschans mit, dass durch die Raketenangriffe der armenischen Streitkräfte eine ganze Familie mit fünf Mitgliedern ums Leben kam. In Armenien ist bisher von zwei getöteten Zivilisten die Rede. Es gibt zahlreiche verwundete Zivilisten auf beiden Seiten: laut Angaben von Menschenrechtsbeauftragten gibt es 19 Verwundete Zivilisten in Aserbaidschan und über 30 in Armenien. Die Situation für die Zivilbevölkerung wird dadurch erschwert, dass sowohl in Armenien als auch Aserbaidschan die Covid-19-Pandemie die jeweiligen Gesundheitssysteme schwer belastet haben. Insbesondere Armenien wurde von der Epidemie schwer betroffen, so dass es zu Engpässen bei Behandlung von Kriegsopfern kommen dürfte. Inzwischen haben die armenischen Streitkräfte in Bergkarabach eine Fundraising-Kampagne gestartet um das Militär finanziell zu unterstützen. 

Darüber hinaus warfen die Konfliktparteien sich gegenseitig vor Cyber-Angriffe durchgeführt zu haben. Den armenischen Medien zufolge wurden Dutzende wichtige Nachrichtenseite des Landes vorübergehend durch aserbaidschanische Hacker außer Betrieb gesetzt. 

Sowohl in Armenien als auch Aserbaidschan stellten sich politische Parteien und Zivilgesellschaften hinter ihre Regierungen. Nachdem sich die Gefechte in Bergkarabach zugespitzt hatten, hat Armenien den Kriegszustand für das gesamte Land ausgerufen. Alle armenischen Männer bis 55 Jahre werden mobilisiert. Gegen Abend unterzeichnete auch Präsident Alijew ein Dekret über die Erklärung des Kriegszustands und die Einführung einer Ausgehsperrstunde in Aserbaidschan. 

Internationale Reaktionen

Russland, die OSZE Minsk-Gruppe, der EU-Ratspräsident und der UN-Generalsekretär riefen die Konfliktparteien zu einer sofortigen Waffenruhe auf. Armenien und Aserbaidschan müssen an den Verhandlungstisch zurückzukehren, so die Aufforderung. Bundesaußenminister Heiko Maas äußerte sich zur Eskalation wie folgt: „Die Nachrichten über erneute, massive Auseinandersetzungen zwischen Armenien und Aserbaidschan entlang der gesamten Konfliktlinien alarmieren mich. Ich rufe beide Konfliktparteien dazu auf, sämtliche Kampfhandlungen und insbesondere den Beschuss von Dörfern und Städten umgehend einzustellen.”

Das Außenministerium der Türkei bekundete Solidarität mit Baku: „Wir verurteilen auf das Schärfste den armenischen Angriff an der aserbaidschanischen Frontlinie, der zivile Opfer forderte und einen klaren Verstoß gegen das Völkerrecht darstellt.“ Der britische Analyst Thomas de Waal spricht vom „neuen Faktor“ der Türkei, die diesmal Aserbaidschaner offener als früher unterstützt.  Dabei sei die Reaktion Russlands, der Schutzmacht Armeniens, wegen der engen Beziehungen Moskaus mit Baku eher „zweideutig“, so der Analyst. Auf Initiative Paschinjans erfolgte am 27. September ein Telefonat mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin. Außerdem besprach Paschinjan die aktuelle Lage in Bergkarabach mit dem französischen Staatschef Macron.  

In den vergangenen Monaten gab es immer wieder Spannungen im langjährigen Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan. Im Juli starben Dutzende Militärangehörige bei einer Eskalation an der zwischenstaatlichen Grenze in Towus, obgleich das eigentliche Konfliktgebiet mehrere Hundert Kilometer von der Grenze entfernt ist. Zuletzt hatte es im April 2016 heftige Kämpfe zwischen Armenien und Aserbaidschan um Bergkarabach gegeben. Dabei starben mehr als 200 Menschen auf beiden Seiten. 

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