Paschinjans 100 Tage: Zwischenbilanz
Am 17. August fand in der armenischen Hauptstadt Jerewan eine große Demonstration anlässlich der ersten 100 Tage der Regierung von Nikol Paschinjan statt. Paschinjan, der Anführer der so genannten „samtenen Revolution“, erzwang den Rücktritt seines Vorgängers Sersch Sargsjan, der die kleine Kaukasusrepublik seit 2008 regierte. Während der Demonstration am 17. August sprach der neue Premierminister über die Errungenschaften der ersten drei Monate seiner Regierung sowie über die nächsten geplanten Schritte. Hier ist ein kurzer Überblick der in den Medien zitierten Thesen von Nikol Paschinjan:
In Armenien gebe es keine Korruption mehr
Armenien habe in den vergangenen 100 Tagen die Korruption bekämpft, verkündete der Regierungschef. „Das bedeutet nicht, dass es in Armenien keine Beamten mehr gibt, die sich bestechen lassen. Das bedeutet aber, dass es unter den hochrangigen Beamten keine korrupten Personen gibt und geben wird. Das garantiere ich persönlich“, sagte Paschinjan.
„Direkte Volksherrschaft“ in Armenien
Paschinjan erklärte den „Platz der Revolution“ zur höchsten Machtinstanz in der Republik. „In Armenien fand faktisch ein Wechsel der Regierungsform statt. In Armenien hat sich nun ein rechtliches Verwaltungssystem etabliert, welches in der Geschichtsschreibung als direkte Volksherrschaft beschrieben werden wird... In der Praxis bedeutet es, dass dieser Revolutionsplatz, der Platz der Republik, zum höchsten Organ der Volksherrschaft erklärt wurde“. Paschinjans Weg zum Amt des Regierungschefs sei durch diesen Platz verlaufen, seine Regierung sei „an diesem Platz gebildet worden“, und sie werde weiterhin diesem Platz unterstellt bleiben.
Der Premierminister versprach, dass die Institution der Volksabstimmung gestärkt werde: Über die wichtigsten Fragen müsste nun ausschließlich durch Referenden abgestimmt werden. Es handele sich dabei sowohl um lokale als auch nationale Volksabstimmungen.
Verfassungsänderung wird initiiert
Eine Verfassungsänderung solle laut Paschinjan vorgenommen werden, die es ermöglichen werde, eine neue Parlamentswahl nicht ausschließlich im Falle des Rücktritts des Premierministers durchzuführen. Auch das Parlament sollte die Entscheidung über eine mögliche Selbstauflösung treffen können. Die Logik dahinter besteht darin, dass Paschinjan befürchtet, dass nach seinem Rücktritt zwecks der Parlamentsauflösung die Anhänger der alten Regierung einen anderen Regierungschef wählen würden. Wann und wie die Verfassung geändert werde soll, erläuterte Paschinjan nicht. Indirekt rief er aber die Bevölkerung dazu auf, diesen Prozess selbst zu initiieren.
Der Fall vom 1. März 2008 sei vollständig aufgedeckt worden
„Alle haben das Interview des Leiters des Speziellen Untersuchungsdienstes, Sasun Chatschatrjan, gestern gehört (Chatschatrjan erklärte, er plane, den ehemaligen Präsidenten Sersch Sargsjan zu den Ereignissen vom 1. März 2008 vernehmen zu lassen – Anm. d. Red.). Nach der Anhörung des Interviews kann ich diese, nun bekanntgegebene Information, wie folgt kommentieren: Wir können sagen, dass die Ereignisse vom 1. März 2008 nun vollständig aufgedeckt worden sind“, erklärte Paschinjan. „Ich sage erneut mit voller Zuversicht: Weder die Verbrecher noch ihre Anführer werden ihrer Verantwortung entgehen“. „Zurzeit haben viele Leute, die verstehen, dass ihre Stunden gezählt sind, begonnen, sich als Opfer von politischen Repressionen darzustellen. Aber keiner fragt danach, wieso diese Leute dann frei sind? Oder denkt ihr wirklich, dass wir nicht wissen, wie man die Richter durch einen Anruf zum beliebigen Urteil zwingen kann?“, sagte Paschinjan. Laut ihm habe die neue Regierung auf die Praxis verzichtet, Einfluss auf die Richter zu nehmen. „Allerdings möchte ich betonen, dass das nicht bedeutet, dass einige Richter nach wie vor Anweisungen von der ehemaligen korrupten Regierung bekommen können. Ich sage dies sowohl der korrupten Ex-Regierung als auch den Richtern, die von ihr Anweisungen erhalten: Denken Sie gut nach und kommen Sie nicht auf die Idee, dem Volk Tricks zu spielen“, fügte Paschinjan hinzu.
Einführung des Justizsystems für die Übergangsperiode
Paschinjan äußerte sein Vorhaben, ein „Justizsystem für die Übergangsperiode“ zu schaffen. Dieses sei notwendig, weil „viele korrupte Beamte im Justizsystem nach wie vor die Volksrevolution nicht verstehen“ und die aktuelle Gesetzgebung „viele Probleme“ beinhalte, so der Premierminister. Als Beispiel nannte er das Gesetz über „illegale Bereicherung“, das erst am 1. Juli 2017 in Kraft trat, was dem Staat erschweren würde, an das vor diesem Datum „geraubte Gut“ zu kommen.
Wirtschaftliche Erfolge
Er behauptete, alle Monopole in Armenien seien „in den ersten 45 Minuten der Premierministerschaft“ von Nikol Paschinjan zerstört worden. Außerdem sprach er von einem wesentlichen Anstieg des Volumens von Bankanlagen (um 250 Mio. USD), des Exports von Früchten und Obst (von Januar bis August 2018 mehr als im gesamten Jahr 2017) sowie den ersten Erfolgen in der Bekämpfung der Massenauswanderung aus Armenien. Im Zeitraum vom 10. Mai bis zum 14. August lag das positive Saldo zwischen den Aus- und Einreisenden in Armenien bei fast 30 Tausend Menschen.
Armenisch-russische Allianz werde stärker
Während seiner Premierministerschaft habe sich Paschinjan zwei Mal mit Wladimir Putin getroffen und drei Mal mit ihm telefoniert. Die armenisch-russischen Beziehungen hätten sich nicht nur nicht verschlechtert, sondern verbessert. Bald werde die armenische Öffentlichkeit über eine neue russisch-armenische Initiative im humanitären Bereich erfahren, die keine vergleichbaren Beispiele in der neuen Geschichte Armeniens habe, verkündete Paschinjan.
Verhandlungen über den Bergkarabachkonflikt
Paschinjan verspach der Bevölkerung, „kein einziges Papier zum Konflikt“ im Geheimen zu unterzeichnen. „Wenn es eine Option geben wird, dann werde ich zu euch kommen, es zeigen, und ihr werdet selbst entscheiden, ob uns diese Option passt oder nicht“. Paschinjan bestritt die „Spekulationen“ darüber, dass er „die Territorien aufzugeben“ plane. Der Premierminister warf der Vorgängerregierung von Sersch Sargsjan vor, dies geplant zu haben. „Ich verfüge über alle Unterlagen, die das belegen“, so Paschinjan.
Kritik an den Äußerungen des Premierministers
Aus den Reihen der Republikanischen Partei Armeniens (RPA) kam heftige Kritik am Regierungschef.
Der Vize-Präsident des armenischen Parlaments und der Pressesprecher RPA, Eduard Scharmasanow, bezeichnete die Rede des Premierministers als „Ankündigung des Endes der Exekutivmacht“ in Armenien. „Paschinjan droht denen, die es wagen, eine abweichende Meinung zu haben, und erklärt die Sicht von ihm und seinen Anhängern zu der einzigen und absoluten Wahrheit“, so der Vize-Parlamentspräsident. Paschinjan habe genau das angekündigt, wofür er selbst die ehemalige Regierung kritisierte – er sei bereit, die Verfassung zu ändern, um selbst an der Macht zu bleiben, sagte Scharmasanow. Bezüglich Paschinjans Zuneigung zur „direkten Demokratie“ äußerte sich der Vize-Parlamentspräsident skeptisch und erinnerte an das Schicksal von Athen, das den Krieg gegen Sparta verlor.
David Arutjunjan, ein hochrangiges Mitglied der RPA, drückte in einem Statement seine Besorgnis darüber aus, dass „sich Erklärungen des Premierministers häufen, die tatsächlich unausgesprochene Drohungen an die Richter“ darstellten, welche seiner politischen Linie nicht folgen. Außerdem kritisierten die RPA-Mitglieder, dass Paschinjan das Prinzip der Unschuldsvermutung missachte. Für kontroverse Meinungen sorgte auch Paschinjans Idee, ein neues „Justizsystem für die Übergangszeit“ zu schaffen.