Transgender-Frau hält Rede im armenischen Parlament

Zum ersten Mal in der Geschichte des armenischen Parlaments hat eine Transgender-Frau vor den AbgeordnetInnen eine Rede gehalten. Am 5. April hat das armenische Parlament öffentliche Anhörungen zum Thema „Nationale Agenda des UN-Menschenrechtsmonitorings“ abgehalten. Am Tag danach hielt Lilit Martirosjan, eine Transgender-Frau und Vorsitzende der öffentlichen Organisation „Partei des Rechtes“, eine Rede zur Menschenrechtssituation in Armenien.

In ihrer Rede erklärte Martirosjan, dass sie Transgender ist und bat darum, sie als stellvertretend für die unterdrückte LGBT-Gemeinschaft und die gravierenden Probleme im Land wahrzunehmen. Sie sagte, dass es „bis 2018 283 Fälle der Gewaltanwendung gegen Mitglieder der LGBT-Gemeinschaft“ gegeben habe. Die Rede löste gemischte Reaktionen im Parlament aus. Die Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses von der Fraktion „Prosperierendes Armenien“, Naira Zohrabjan, drückte ihre Unzufriedenheit mit dem Inhalt der Rede aus. Zohrabjan gestattete Martirosjan, ihre Rede bis zum Ende zu halten, war jedoch darüber empört, dass Martirosjan über ein Thema geredet hat, das nichts mit den Reformen im Justizbereich und dem Schutz von Kindern und Menschen mit Behinderungen zu tun habe – dem eigentlichen Thema der Anhörungen. Zohrabjan beschuldigte Martirosjan des mangelnden Respekts gegenüber dem Parlament. Daraufhin wurde die LGBT-Aktivistin aus dem Saal entfernt.

Der Zwischenfall löste hitzige Debatten in den sozialen Netzwerken aus. Einige Nutzer kritisierten die Organisatoren der öffentlichen Anhörungen für die Tatsache, dass sie Lilit Martirosjan überhaupt erlaubt haben auf der Parlamentstribüne zu reden. Am 8. April kam es zu einer Protestaktion vor der armenischen Nationalversammlung. Die Aktion wurde von der „Artsiv-30. Ararat“, der Union der Veteranen des Bergkarabach-Krieges und der NGO „Volya“ organisiert. Einer der Protestanführer, Vaagn Chakljan, sagte, die Rede stehe im Widerspruch zum Artikel 42 der armenischen Verfassung, welcher besagt: „Die Freiheit der Selbstdarstellung kann gesetzlich eingeschränkt sein, wenn sie die Staatssicherheit, die Moral und die Rechte sowie die Freiheit anderer gefährdet“.

Die EU-Delegation in Armenien sowie die Botschaften der EU-Mitgliedstaaten äußerten ihre Sorgen über den aggressiv geführten öffentlichen Diskurs im Zusammenhang mit Martirosjans Rede im Parlament. „Hassreden, einschließlich Morddrohungen gegen Frau Lilit Martirosjan und ihre KollegInnen sowie die gesamte LGBTIQ-Gemeinschaft stellen eine besorgniserregende Entwicklung dar. Das sind Diskriminierungen, die gemäß der Europäischen Konvention für Menschenrechte und Grundfreiheiten, zu der sich Armenien bekennt, verboten sind. Dies ist auch in der Verfassung Armeniens verankert“. Die EU appellierte an alle Menschen in Armenien, die den allgemeinen Ansatz der Menschenrechte fördern und daran glauben, dass Hassreden verurteilt werden sollten“. Die EU-Botschafter riefen die Strafverfolgungsbehörden auf, dringende Maßnahmen zu ergreifen, um die Sicherheit der armenischen Bürger zu gewährleisten und in Vorwürfen gegen Personen zu ermitteln, die verdächtigt werden, Hassverbrechen begangen zu haben, hieß es in der offiziellen Erklärung der EU-Delegation.

Das armenische Außenministerium reagierte umgehend. „Die Regierung der Republik Armenien hält sich uneingeschränkt an ihre Verpflichtungen zum Schutz und zur Förderung der Menschenrechte. Die gewaltfreie demokratische Revolution, die in Armenien stattgefunden hat, ist der beste Beweis dafür, dass die Menschenrechte im Allgemeinen wirksam geschützt werden, wenn sie Teil eines sozialen Konsenses werden und als universelle soziale und moralische Werte wahrgenommen werden. In diesem Zusammenhang sollten unsere internationalen Partner der armenischen Gesellschaft mehr Respekt und Sensibilität entgegenbringen und sich nicht unangemessen in die öffentliche Debatte einmischen, auch wenn sie ihrer Tonalität nicht zustimmen. Wir möchten daran erinnern, dass der Grundsatz der öffentlichen Moral ein Teil der internationalen Verpflichtungen im Bereich der Menschenrechte ist und nicht ignoriert werden kann“, sagte die Pressesprecherin des Außenministeriums, Anna Nagdaljan.

Die Rede von Martirosjan löste auch innere Spannungen zwischen der Regierungspartei „Mein Schritt“ und der Partei „Prosperierendes Armenien“ aus. Der Regierungschef Nikol Paschinjan beschuldigte Naira Zohrabjan, eine „politische Provokation“ gegen die an seiner Seite stehende Parlamentsmehrheit organisiert zu haben. Der Sicherheitsdienst des Parlaments habe ihm eine Liste von Einzelpersonen vorgelegt, die zu den Anhörungen eingeladen wurden. Diese Liste sei von Zohrabjan persönlich unterzeichnet worden. Der Premierminister forderte die Fraktion „Prosperierendes Armenien“ auf, den Rücktritt von Zohrabjan vom Vorsitz des Menschenrechtsausschusses in Erwägung zu ziehen und einen anderen Vorsitzenden für den Parlamentsausschuss zu ernennen.

Zohrabjan behauptete hingegen, Martirosjan sei zu den Anhörungen von Maria Karapetian eingeladen worden, einer Abgeordneten der regierenden Parlamentsfraktion „Mein Schritt“. Im Bezug auf Paschinjans Vorwürfe gab die Fraktion eine kritische Erklärung ab: „Unsere Fraktion ist der Ansicht, dass Naira Zohrabjan keine ethischen Verhaltensregeln oder Bestimmungen der parlamentarischen Statuten oder eine andere Rechtsnorm verletzt hat“, hieß es im Statement.

Der Regierungsblock von Paschinjan wurde auch von Eduard Scharmasanow, dem Sprecher der ehemaligen regierenden Republikanischen Partei Armeniens (diese gehört inzwischen nicht mehr dem armenischen Parlament an – Anmerkung der Redaktion), scharf kritisiert. „Ja, in unserem Land hat sich etwas verändert. Unter der Republikanischen Partei hätte eine Transgender-Person keine Rede in der Nationalversammlung gehalten“, sagte Scharmasanow. Paschinjan konterte damit, dass Martirosjan ihren früheren männlichen Vornamen Vagharshak während der Amtszeit von Sersch Sargsjan legal geändert hätte. Er sagte, dass der aktuelle Ausweis der Transgender-Aktivistin, der 2015 ausgestellt wurde, sie als männlich ausweist, während sie den weiblichen Namen „Lilit“ trage. „Ich lag offenbar richtig als ich sagte, dass die Mitglieder der Republikanischen Partei LGBT-Aktivisten sind“, ironisierte Paschinjan.

Einige Menschenrechtsverteidiger in Armenien äußerten sich skeptisch darüber, ob die armenische Gesellschaft bereit sei, die LGBT-Gemeinschaft zu akzeptieren. Nina Karapetjants, die Leiterin der Helsinki-Assoziation in Armenien, sagte, dass „es derzeit noch nicht sicher genug dafür ist, über die Rechte der LGBT-Gemeinschaft in Armenien zu sprechen“. Arthur Sakunts, Leiter des Vanadzor-Büros der „Helsinki Citizens Assembly“, teilt diese Ansicht nicht. Die armenische Gesellschaft sei toleranter als einige Leute versuchen sie darzustellen. „Unter der neuen Regierung ist das Problem der LGBT-Personen zum Gegenstand von Diskussionen geworden. Der Inhalt der Debatte offenbart ein Problem der Anerkennung und des Wissens. Obwohl es in der Gesellschaft immer noch einen Trend dazu hin gibt, alles was neu ist als gefährlich wahrzunehmen. Das Tabu wird jedoch langsam aufgehoben“, glaubt Sakunts.

Inzwischen arbeitet die armenische Regierung an der Ausarbeitung einer nationalen Strategie für die Gleichstellung der Geschlechter, berichtete in diesem Zusammenhang News.am. Am 8. April fand in Brüssel die 10. Runde des Menschenrechtsdialogs zwischen der EU und der armenischen Regierung statt. Die EU und Armenien erörterten die Ausarbeitung des Entwurfs der nationalen Strategie für die Gleichstellung der Geschlechter zwischen 2019-2023. Beide Seiten betonten die Bedeutung der Sensibilisierung der Öffentlichkeit und der Förderung der Gleichstellung der Geschlechter, insbesondere durch Bildung, und bekräftigten ihre Unterstützung zu diesem Zweck.

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