Was motiviert die türkische Rhetorik zu den jüngsten Grenzgefechten zwischen Armenien und Aserbaidschan?

Während der jüngsten Grenzkämpfe zwischen Armenien und Aserbaidschan wurde von offiziellen Stimmen außerhalb der beiden Konfliktnationen geschlossen Zurückhaltung gefordert. Dies galt auch für Russland, dem Land, das traditionell als De-facto-Vetomacht in dem Konflikt angesehen wird und das durch die OVKS in einem formellen Militärbündnis mit Armenien steht. Die Türkei stellte hier die Ausnahme zur Regel dar. Ankara eskalierte wiederholt seine Rhetorik und schien entschlossen zu sein, Bakus Seite in diesem Konflikt zu vertreten. Es stellt sich also die Frage, welche Interessen das türkische Verhalten in Bezug auf den kürzlichen Zusammenstoß zwischen Armenien und Aserbaidschan bestimmen.

Wir können die türkischen Interessen in dieser Angelegenheit in drei Hauptbereiche unterteilen. Erstens hat die Türkei aus Gründen der kulturellen Bindung im Kontext der Geopolitik ein Interesse an dem Konflikt. Das starke türkische Engagement für Aserbaidschan ist nichts Neues und Baku stand schon immer im Mittelpunkt der türkischen Bemühungen, Ankaras Einfluss auf die türkischsprachige Welt nach dem Fall der Sowjetunion zu stärken. Aserbaidschan, das durch die bloße geografische Nähe tiefer in die geopolitische Umlaufbahn der Türkei integriert ist als andere Turk-Staaten, dient als Dreh- und Angelpunkt für Ankaras Verbindung mit den Turkvölkern der postsowjetischen Sphäre. Diese Bemühungen begannen Anfang der neunziger Jahre mit der Gründung der Internationalen Organisation für die türkische Kultur und gipfelten 2009 in der Einrichtung des Türkischen Rates, dessen Ziel die Stärkung der Zusammenarbeit in zahlreichen Bereichen ist. Wenn Ankara möchte, dass seine Fortschritte in der türkischsprachigen Welt ernst genommen werden, kann es nicht schwach erscheinen, wenn es um grundlegende Fragen bezüglich seines engsten Partnerstaates im türkischsprachigen Raum geht. Aserbaidschan kann daher als Indikator für die Entschlossenheit von Ankaras allgemeinem Engagement in der türkischsprachigen Welt angesehen werden. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Türkei militärische Maßnahmen ergreifen wird, die über die bereits bestehenden Formen der Zusammenarbeit mit Aserbaidschan hinausgehen, wie Schirijew und De Waal gegenüber Al-Monitor erklärt haben. Es erklärt jedoch die feindselige Rhetorik, die verwendet wird, um Stärke und Unterstützung gegenüber den „türkischen Brüdern“ zu signalisieren. Diese Logik betrifft auch innenpolitische Berechnungen der türkischen Regierung, da nationalistische Emotionen und historisch begründete anti-armenische Stimmungen die Regierung in Zeiten von eskalierenden Feindseligkeiten zwischen Armenien und Aserbaidschan zu einer starken Reaktion treiben - zumindest in rhetorischer Hinsicht. Dies ist jetzt besonders relevant, da Erdogans politische Unterstützung in letzter Zeit aufgrund des wirtschaftlichen Abschwungs geschrumpft zu sein scheint.

Zweitens befindet sich die Türkei inmitten einer wachsenden geopolitischen Rivalität mit Russland. Obwohl viele Beobachter vor einigen Jahren eine engere Zusammenarbeit zwischen Russland und der Türkei vorausgesagt hatten, haben sich die Beziehungen zwischen den beiden Staaten aufgrund der Stellvertreterkriege in Syrien und Libyen abgekühlt. Russland hat in der Vergangenheit sowohl Armenien als auch Aserbaidschan Waffen zur Verfügung gestellt hat und es gibt weit verbreitete Vorwürfe gegen Moskau, dass der eingefrorene Bergkarabach-Konflikt als Instrument zur Verankerung der russischen Rolle als Schlichtermacht im Südkaukasus genutzt wird. Nichtsdestotrotz gilt Moskau immer noch als Sicherheitsgarant Armeniens. Indem Ankara sich stärker in den Konflikt einfügt, fordert es Russland sichtbar in seinem eigenen Einflussbereich heraus, in der Hoffnung, einige der geostrategischen Rückschläge und Reputationsverluste zu rächen, die der Türkei von Moskau im syrischen Bürgerkrieg hinzugefügt wurden. Unter der Annahme, dass die Türkei wahrscheinlich nicht an einer direkten militärischen Beteiligung interessiert ist, scheint dies ein riskantes Spiel zu sein. Bisher hat sich Ankaras Spekulation auf eine fehlende russische Interventionsbereitschaft jedoch ausgezahlt und die offiziellen Regierungsstellen in Moskau scheinen besorgt über die jüngsten Entwicklungen zu sein.

Schließlich hat die Türkei aus Gründen der Energiesicherheit ein starkes Interesse an der Situation. Die überraschendste Entwicklung bei den jüngsten Zusammenstößen war nicht die Tatsache, dass der eingefrorene Konflikt plötzlich heiß wurde, sondern der Ort, an dem die Eskalation stattfand. Die Region Towus ist nicht Teil des Territorialkonflikts zwischen Aserbaidschan und Armenien. Für die Türkei ist die Feindseligkeit in diesem Bereich im Allgemeinen riskant, da Abschnitte des TANAP-Projekts in der Nähe des militärischen Zusammenstoßes verlaufen. Ankara war bisher stark von russischen Gasimporten abhängig und zahlt relativ hohe Preise für den Energieimport. Neben dem Import von gekühltem Flüssiggas (LNG) war TANAP der vielversprechendste Versuch der Türkei, sich von dieser Abhängigkeit zu befreien, indem sie ihre Energieimporte auf einen vertrauenswürdigen Partner verlagern und ihre Energiequellen allgemein stärker diversifizieren. Bluestream ist im Mai dieses Jahres außer Betrieb gegangen, während Turkstreams Lieferkapazität im Juli auf 50% beschränkt wurde. Diese Pipelines dienten bisher als Hauptinfrastruktur für den Export von russischem Gas in die Türkei. Laut der Türkischen Regulierungsbehörde für den Energiemarkt ist Russland mittlerweile nur noch der viertgrößte Gaslieferant der Türkei, nachdem das Land im März 2019 noch 72% seiner Gasimporte aus Russland bezog. Angesichts der Bedrohung TANAPs wird die Türkei jedoch nicht nur dem Risiko von Versorgungsengpässen ausgesetzt sein, sondern muss möglicherweise Gespräche mit Moskau aufnehmen, um das für die Türkei nachteilhafte Energieabkommen zu erneuern, das im nächsten Jahr ausläuft. Wenn Ankara glaubt, dass Armenien hinter der jüngsten Eskalation der Gewalt steckt, könnte die harte Rhetorik ein Versuch sein, Eriwan davon abzuschrecken, die Eskalation weiter voranzutreiben.

In Anbetracht dieser drei Interessensbereiche ist Ankaras Rhetorik nachvollziehbar. Obwohl die türkische Regierung im Falle künftiger Eskalationen einen ähnlichen Standpunkt vertreten könnte, ist ihre Bereitschaft, der Rhetorik eine proaktive Militäraktion folgen zu lassen, höchst unwahrscheinlich. Ankaras Strategie basiert in der Tat hauptsächlich auf Schein und Rhetorik. Sollten Russland und die OVKS-Mitgliedstaaten jemals beschließen, während derartiger Eskalationen eine konfrontativere Haltung einzunehmen, wäre Ankara möglicherweise gezwungen seinen Kurs umzukehren und sich in die Reihen der externen Mächte einzugliedern, die zur Zurückhaltung aufrufen.

-Philip Roehrs-Weist

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