Zur aktuellen Lage um den Bergkarabachkonflikt

Am 16. Juni reiste der armenische Premierminister, Nikol Paschinjan, erneut nach Bergkarabach, ein Gebiet, das nach dem Zusammenbruch der UdSSR zum Schauplatz des armenisch-aserbaidschanischen Krieges wurde. Dies sei bereits die zweite Reise Paschinjans in die Region gewesen, seitdem er im Mai dieses Jahres als Premierminister gewählt worden ist. Der armenische Regierungschef und der Anführer der Karabach-Armenier, Bako Saakjan, besuchten gemeinsam die Stadt Agdam an der armenisch-aserbaidschanischen Kontaktlinie und machten sich mit „neuen Technologien der Ingenieur- und Befestigungsinfrastrukturen und der Implementierung von zuverlässiger Verteidigung“ bekannt. In der jüngsten Zeit reisten mehrere armenische Offizielle in die Konfliktregion, wie etwa der armenische Präsident, Armen Sargsjan.

Zu dem eigentlichen Anlass von Paschinjans jüngstem Besuch in Bergkarabach wird nicht viel berichtet. Der Pressesprecher der armenischen Regierung, Arman Jegojan, teilte lediglich mit, dass „dieser Besuch keinen speziellen Zweck“ verfolge. Der armenische Journalist Sargis Arzruni vermutet jedoch in seinem Beitrag auf der Nachrichtenseite 1in.am, dass der außerplanmäßige Besuch des armenischen Minitsterpräsidenten in Bergkarabach gleich mehreren Zwecken diene. Zum einen handele es sich um den Ausdruck der Unterstützung der armenischen Regierung für Bako Saakjan und die De-facto-Regierung von Bergkarabach, da Armenien kein Interesse an der weiteren Vertiefung der aktuellen politischen Krise in Bergkarabach habe. In den letzten Wochen gab es heftige Proteste gegen die Regierung der international nicht anerkannten Republik, weshalb mehrere Schlüsselfiguren im Sicherheitsapparat zurücktreten mussten. Saakjan selbst versprach, nach 2020 nicht mehr als Präsident der nicht anerkannten Republik kandidieren zu wollen. Zum anderen hänge der Besuch mit der angespannten militärischen Situation an der Front zusammen, schreibt der Journalist. Er vermutet außerdem, dass der armenische Premierminister während seines jüngsten Treffens mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin keine festen Sicherheitsgarantien für den Fall eines erneuten Kriegsausbruchs in Bergkarabach bekommen konnte, was ihn dazu veranlasst habe, außerplanmäßig nach Bergkarabach zu reisen.

Die armenischen Medien hatten zuvor über die angebliche Konzentration der aserbaidschanischen Soldaten und Kriegsgeräte in der Frontzone bzw. in Richtung Agdam und Fisuli berichtet. Die Vertreter der Karabach-Armenier bewerteten die militärische Verstärkung der aserbaidschanischen Armee an der Kontaktlinie gar als Vorbereitung für neue Kampfhandlungen. „Die aserbaidschanische Seite konzentriert Truppen entlang der gesamten Länge der Kontaktlinie und setzt Einheiten in den Grenzgebieten ein. Seit April 2016 wurde so etwas nicht beobachtet“, so der Pressesprecher David Babajan.

Das Außenministerium Aserbaidschans gab eine Stellungnahme hinsichtlich des Besuchs des armenischen Premierministers in der Konfliktzone ab. „Nach dem Besuch des armenischen Präsidenten ist der Besuch von Pashinjan in den besetzten Gebieten Aserbaidschans eine Provokation, ein militärisches Abenteuer und ein bewusster Schritt, um die Situation zu verschärfen. Sie zeigen offen, dass Armenien nicht daran interessiert ist, den Konflikt durch Verhandlungen zu lösen, militärische Aggression und Besatzung zu stoppen und seine Truppen aus den besetzten aserbaidschanischen Gebieten zurückzuziehen“, sagte der Pressesprecher des Ministeriums, Hikmat Hajiyev.

Militärische Situation

Die aktuelle Situation an der armenisch-aserbaidschanischen Kontaktlinie bleibt unruhig. So wurde am 10. Juni ein armenischer Soldat, Vaagn Elojan, nach einem Schusswechsel an der Frontlinie erschossen. Einen Tag früher verbreitete die aserbaidschanische Armee eine Meldung über die Befreiung einiger Anhöhen (insgesamt sprechen die aserbaidschanischen Offiziellen von 11.000 Hektar Land, das unter Kontrolle Aserbaidschans gebracht worden sei) an der Grenze zwischen Armenien und der Autonomen Republik Nachitschewan. In Armenien betonte der Pressesprecher des Verteidigungsministeriums, dass Aserbaidschan neue Stellungen auf seinem eigenen Territorium errichtet habe und sah darin „keinen Grund zur Panik“. 

Am 11. Juni nahm der aserbaidschanische Staatschef Ilham Alijew an der Eröffnung einer Militäreinheit für Raketentruppen teil. Dabei wurden die neu gekauften modernen Raketenkomplexe, belarussische Polones und israelische LORA, zum ersten Mal der Öffentlichkeit präsentiert. In Aserbaidschan gilt die Stärkung des Raketenpotenzials als Antwort auf das höchstmoderne Raketensystem „Iskander“, das von Russland an Armenien geliefert worden war. Die russischen „Iskanders“ wurden 2017 bei einer Militärparade in Jerewan gezeigt, und der damalige armenische Verteidigungsminister machte in einem Interview für die Nachrichtenagentur RIA Nowosti deutlich, dass Armenien bei Bedarf dieses Raketensystem auch gegen die strategischen Infrastrukturobjekte des Gegners einsetzen könnte.

Armenien kritisierte seinen Verbündeten in der Organisation des Vertrags für Kollektive Sicherheit – Belarus – für den Verkauf des Trägerraketensystems „Polones“ an Aserbaidschan. „Angesichts der Tatsache, dass Belarus ein freundliches Land für uns ist und seiner Verpflichtungen als unser Verbündeter, ist es sehr bedauerlich, dass Belarus Waffen an einen Staat verkauft, der sich in einem Konflikt mit uns befindet... Ich glaube, es ist nicht ganz logisch“, sagte der stellvertretende Außenminister Armeniens, Ruben Rubinyan, gegenüber dem armenischen Dienst von Radio Liberty.

Stand bei den Verhandlungen

Der im Mai gewählte Premierminister Armeniens, Nikol Paschinjan, besteht seit den ersten Tagen im neuen Amt darauf, dass die nicht anerkannte Republik in Bergkarabach in den Verhandlungsprozess als gleichberechtigte Partei miteinbezogen werden müsse. Laut Paschinjan würden die Verhandlungen nicht effektiv laufen, sobald die Karabach-Armenier nicht mit am Verhandlungstisch sitzen. Ein solches Recht für die Karabach-Aserbaidschaner lehnte er allerdings ab. Aserbaidschan vertritt dabei die Position, dass gemäß den Beschlüssen des Ministerrats der OSZE im März 1992 in Helsinki nur Armenien und Aserbaidschan als Konfliktparteien, während die aserbaidschanische und die armenische Gemeinde der Region als interessierte Parteien anerkannt worden seien.

Vom 12. bis 14. Juni waren die Ko-Vorsitzenden der OSZE-Minsk-Gruppe zu Besuch in Armenien. Nach den Treffen mit hochrangigen Vertretern der armenischen Regierung hatten sie eine gemeinsame Erklärung herausgegeben. Dem Statement zufolge tauschten sich die Ko-Vorsitzenden und die armenischen Beamten über den aktuellen Stand der Verhandlungen aus und erörterten die nächsten Schritte, um den Prozess voranzutreiben, einschließlich eines Ministertreffens in naher Zukunft. Sie besprachen auch die derzeitige Situation an der Grenze/Kontaktlinie zwischen Armenien und Aserbaidschan. Die Ko-Vorsitzenden sollen ihr Engagement bekräftigt haben, den Seiten zu helfen, eine friedliche Lösung des Konflikts auf der Grundlage der Kernprinzipien der Schlussakte von Helsinki, einschließlich der Nichtanwendung oder Androhung von Gewalt, territorialer Integrität sowie der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker zu finden.

Die Region Bergkarabach gehört völkerrechtlich zu Aserbaidschan, jedoch wird von Armenien, das sich als Schutzmacht für die Karabach-Armenier sieht, militärisch besetzt. Infolge des  Krieges zwischen Armenien und Aserbaidschan in den 90-er Jahren des letzten Jahrhunderts wurde die aserbaidschanische Bevölkerung aus Bergkarabach und sieben weiteren Provinzen, die ebenso unter armenische Kontrolle gerieten, vertrieben. Aktuell werden diese Gebiete fast ausschließlich von Armeniern bewohnt. Die Minsker Gruppe der OSZE unter Ko-Vorsitz Russlands, Frankreichs und den USA vermittelt seit 1994 bei der Suche nach einer friedlichen Lösung des Konflikts, ein Erfolg steht aus. 

 

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