Armenisch-Russische Krise? Kreml-nahe Medien beschuldigten Paschinjans Großvater der Nazi-Kollaboration

| Nachricht, Politik, Armenien

Als vor zwei Jahren in der kleinen Kaukasusrepublik Armenien eine gewaltlose Revolution stattfand, die die Regierung von Sersch Sargsjan wegfegte und den ehrgeizigen Oppositionspolitiker Nikol Paschinjan an die Spitze der Macht brachte, wurden viele Politiker in Russland mißtrauisch. Auf der Expertenebene und in Medien hat man sich besorgt mit der Frage befasst, ob es sich nicht wieder einmal um eine prowestliche “Farbenrevolution” handelt? Eine Revolution, die einen der wenigen verbliebenen Verbündeten Moskaus aus seinem geopolitischen Einflussbereich treiben wird. Allerdings machte die neue armenische Regierung schnell klar: Es handele sich um keine “Farbenrevolution”, und sie werde auf keinen Fall die Bündnis-Beziehungen zwischen Eriwan und Moskau beeinträchtigen[i]. Ganz im Gegenteil, sie würden sich weiter entwickeln und ein neues Niveau erreichen[ii].

Trotz der einst kritischen Haltung Paschinjans gegenüber der von Russland geführten Eurasischen Wirtschaftsunion, zeigte Armenien seine Bereitschaft, in der Organisation intensiv mitzuwirken und seine eigene Mitgliedschaft “effizienter und nützlicher” zu gestalten[iii].  Um seine geopolitische Orientierung zu bekräftigen, entsandte Armenien eine Mission nach Syrien. Ein Schritt, den angesichts der internationalen Verachtung des Assad-Regimes, selbst die russlandtreue Regierung von Sargsjan nicht wagte. Diese Initiative wurde von Russland und Syrien begrüßt und von den USA verurteilt[iv].

Zwei Jahre nach der “Samtenen Revolution” befindet sich Armenien immer noch in der geopolitischen Sphäre Russlands. Der armenische Premierminister spricht optimistisch über die armenisch-russischen Beziehungen, die er stets als “prächtig” bezeichnet. Allerdings gibt es zwischen Moskau und Eriwan eine Reihe offener Fragen, die weit entfernt von einer Lösung sind. So scheint Russland der aufdringlichen armenischen Bitte, Gaspreise zu senken, nicht stattgeben zu wollen. Andererseits laufen gegen das Tochterunternehmen der Russischen Eisenbahnen in Armenien, die Südkaukasische Eisenbahn, staatliche Ermittlungen wegen Steuerhinterziehungen, was für Unmut in Russland sorgt[v]. Und trotz der klaren Warnung der russischen politischen Führung vor einer “politischen Vendetta”[vi], bleibt der armenische Ex-Präsident Kotscharjan, der als Wladimir Putins Freund gilt und dem der russische Staatschef persönlich zum Geburtstag gratuliert, weiterhin in Haft[vii].

Seit der Revolution besuchte Putin Armenien nur einmal, um an dem Gipfel der Eurasischen Wirtschaftsunion teilzunehmen. Im Laufe dieser einzigen Reise traf er sich mit Robert Kotscharjans Ehefrau[viii]. Eine Geste, die im politisch stark polarisierten Armenien als offener Affront gegen Paschinjan interpretiert werden könnte.  

Vor diesem Hintergrund mehren sich Anzeichen einer Vertrauenskrise zwischen den Verbündeten, die sich nun offenbar auch in russischer Medienberichterstattung widerspiegelt. Als Paschinjan am 9. Mai ein Bild von seinem Großvater auf Facebook mit dem Kommentar “Nikolai Paschinjan, 1913-1943, diente im 554. Regiment der 138. Schützendivision. Ewiges Andenken für die Heimat Gefallenen” teilte, ahnte er nicht, das dieser Post in einen regelrechten Medienskandal münden würde. Gleich nach der Publizierung fanden armenische Medien durch  sowjetische und deutsche Datenbanken heraus, dass ein Mann namens Nikolai Paschinjan tatsächlich im Zweiten Weltkrieg kämpfte. Allerdings, auf der Seite der Wehrmacht als Soldat der Armenischen Legion.

Die armenische Regierung erklärte daraufhin, dass es damals zwei Menschen mit dem Namen Nikolai Paschinjan gab. Sie trugen jedoch unterschiedliche Vatersnamen: beim Großvater des Premierministers war es Arakelowitsch, während der Vatersname des Wehrmacht-Legionärs Wartanowitsch war. Aufgrund dieser hitzigen Debatte musste Paschinjan seinen Facebook-Beitrag um den Vatersnamen seines Großvaters nachträglich ergänzen. Die Unterscheidung zwischen den beiden Männern wurde durch die Tatsache verkompliziert, dass die beiden Nikolai Paschinjans im selben Jahr geboren wurden und aus demselben Bezirk zur Armee einberufen worden waren, aus dem die Familie des armenischen Regierungschefs stammt. Der Großvater von Paschinjan wurde im Februar 1943 als vermisst gemeldet, während sein voller Namensvetter im September 1943 durch einen Bauchschuss getötet und auf dem deutschen Kriegsfriedhof in Zwiahel (Nowograd-Wolynsky, Ukraine) begraben wurde. 

Während die medialen Angriffe seitens der lokalen Oppositionsmedien zu erwarten waren, durfte die kritische Berichterstattung über diese Situation in russischen Medien für Paschinjan offenbar eine unangenehme Überraschung gewesen sein. Die bekannten russischen Medienoutlets wie “Lenta.ru”[ix], “Gazeta.ru”[x], “Rosbalt”[xi], “Moskowskij Komsomoletz”[xii] und andere veröffentlichten Artikel unter Schlagzeigen wie “Leiche in Paschinjans Keller”, “Paschinjans Geheimnis” oder “Paschinjans Schweigen”. In allen Artikeln spekulierten Journalisten offen darüber, dass der Großvater des armenischen Premierministers womöglich ein Nazi-Kollaborateur gewesen sei. Darüber hinaus finden in Publikationen kritische Bemerkungen in Bezug auf das Denkmal für Garegin Nschdeh im Zentrum der armenischen Hauptstadt wieder. Nschdeh war ein armenischer Militärkommandeur, der die Ideologie der Nationalsozialisten teilte und auf der Seite der Wehrmacht gegen die Sowjetunion kämpfte. In Armenien wird er für seinen Kampf gegen das Osmanische Reich als Held wahrgenommen, während sein späterer Lebensverlauf ausgeblendet wird. 

Das armenische Außenministerium und die Pressesprecherin des Premierministers äußerten ihre Empörung über die Veröffentlichungen der russischen Medien über Paschinjans Großvater.  Ihnen zufolge handelt es sich um eine Falschinformation, deren Ziel es sei, “in die brüderlichen armenisch-russischen Beziehungen einen Keil zu treiben”. “Wir bedauern, dass einige renommierte russische Medien die unbestätigten Materialien mit einer derartigen Rhetorik veröffentlichten”. Solche Informationen würden “von bestimmten politischen Kreisen” zu “rein politischen Zwecken” verbreitet, sagte die Pressesprecherin des Premierministers, Mane Geworkjan[xiii].  

Um welche politische Kreise es sich dabei handelt, verriet Geworkjan nicht. Es ist in der Tat schwer zu beurteilen, ob hinter den kritischen Publikationen über Paschinjan eine Verschwörung seiner Widersacher steht, oder doch eher der übliche Hang von Journalisten zu sensationellen Nachrichten die entscheidende Rolle spielte. Allerdings haben derart “persönliche” Publikationen zum 75. Jahrestag des Kriegsendes in gleich mehreren regierungsnahen russischen Medien auch einen politischen Kontext. Unter Berücksichtigung des komplizierten Hintergrunds der russisch-armenischen Beziehungen und der jüngsten Entscheidung des armenischen Gerichts, den Ex-Präsidenten Robert Kotscharjan nicht unter Auflagen freizulassen, könnten solche Publikationen als Ausdruck der wachsenden Entfremdung zwischen den politischen Eliten der beiden Staaten bewerten werden. Die zunehmend aggressive Rhetorik in den Medien könnte auf eine sich vertiefenden Vertrauenskrise zwischen Russland und Armenien hindeuten. 

Author: Philip Röhrs-Weist


[i] »В Армении не было "цветной" революции: Интервью Никола Пашиняна немецкой международной общественной телерадиокомпании “Deutsche Welle”«, Website des Premierministers der Republik Armenien, 01.02.2019, https://www.primeminister.am/ru/interviews-and-press-conferences/item/2019/02/01/Nikol-Pashinyan-interview-Deutsche-Welle/

[ii]  »Пашинян рассчитывает, что отношения с Россией перейдут на новый уровень«, RIA Nowosti, 27.07.2018, https://ria.ru/20180727/1525487846.html

[iii] Rustem Faljahow, »Пашинян уходит дворами: что не устраивает Армению в ЕАЭС«, Gazeta.ru, 04.02.2019, https://www.gazeta.ru/business/2019/02/01/12158275.shtml

[iv] »USA kritisieren den Einsatz des armenischen Militärs in Syrien«, Caucasus Watch, 14.02.2019, http://caucasuswatch.de/news/1320.html

[v] »Russische Eisenbahn strebt Kündigung des Konzessionsvertrags mit Armenien an«, Caucasus Watch, 24.09.2019, http://caucasuswatch.de/news/2056.html

[vi] »Russia Deplores ‘Political’ Charges Against Former Armenian Officials«, RFE/RL (Armenia), 31.08.2018, https://www.azatutyun.am/a/29401668.html

[vii]»Robert Kotscharjan bleibt in Haft«, Caucasus Watch, 15.05.2020, http://caucasuswatch.de/news/2705.html

[viii] »Москва подтвердила встречу Путина с женой экс-президента Армении Кочаряна«, Nowosti-Armenia, 02.10.2019, https://newsarmenia.am/news/politics/moskva-podtverdila-vstrechu-putina-s-zhenoy-eks-prezidenta-armenii-kocharyana/

[ix] Konstantin Ljapunow, »Тайна деда«, Lenta.ru, 15.05.2020, https://lenta.ru/articles/2020/05/15/ded/

[x]  Alexei Schewelew, »Тайна Пашиняна«, Gazeta.ru, 15.05.2020, https://www.gazeta.ru/social/2020/05/15/13084717.shtml

[xi] »Молчание Пашиняна«, Rosbalt, 15.05.2020, https://www.rosbalt.ru/world/2020/05/15/1843510.html

[xii] Leila Sibarowa, „Скелет в семейном шкафу Никола Пашиняна“, Moskowskij Komsomoletz, 15.05.2020, https://www.mk.ru/social/2020/05/15/skelet-v-semeynom-shkafu-nikola-pashinyana.html

[xiii] »Ереван опроверг данные СМИ о воевавшем против Красной армии деде Пашиняна«, RBC, 18.05.2020, https://www.rbc.ru/rbcfreenews/5ec1b7749a794726586839d2

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