Kotscharjan frei, Paschinjan wütend: Die Situation in Armenien ist angespannt

Am 19. Mai hat der armenische Ministerpräsident, Nikol Paschinjan, seine Anhänger dazu aufgefordert, Gerichtsgebäude in Armenien zu blockieren.

Der Appell, die Gerichtsgebäude zu sperren, erfolgte nach der Entscheidung des Gerichts in Jerewan, den ehemaligen Präsidenten Armeniens, Robert Kotscharjan, vorzeitig freizulassen. Davit Grigorian, der den Prozess leitete, erließ sein Urteil nach dem Versprechen von Bako Sahakyan und Arkadi Ghukasyan (ehemaliger und derzeitiger Präsident der international nicht anerkannten Republik Bergkarabach), Kotscharjans „angemessenes Verhalten“ im Falle seiner Freilassung zu gewährleisten.

Nikol Paschinjan erklärte zur Entscheidung des Gerichts, Kotscharjan freizulassen, dass das Land für die zweite und wichtigste Phase der Revolution reif sei, berichtete die TASS am 19. Mai. Am selben Tag gab Paschinjan auf Facebook einen Aufruf dazu ab alle Gerichtsgebäude (in Armenien) zu blockieren. „Am 20. Mai werden wir ab 8:30 Uhr alle Ein- und Ausgänge zu und von allen Gerichten ausnahmslos sperren, damit niemand herauskommen kann“, hieß es in seinem Beitrag. Die Demonstranten folgten den Anweisungen von Paschinjan und versperrten die Eingänge zu den Gerichten in ganz Armenien. Der Präsident selbst beteiligte sich an der Blockade, obwohl Paschinjan zuvor erklärt hatte, dass er nicht beabsichtige, daran teilzunehmen. Während seines Besuchs begrüßte er mehrere Dutzend Demonstranten, die eines der Gerichtsgebäude in Jerewan blockierten. „Ich hoffe, dass ihr euch nicht erkältet“, sagte er. „Ich bin gekommen, um euch zu sagen, dass ich euch liebe“, fügte er hinzu.

Am selben Tag berief er ein Dringlichkeitstreffen mit hochrangigen Staatsbeamten ein, bei dem er eine obligatorische „Überprüfung“ aller Richter in Armenien forderte und erklärte, dass viele von ihnen wegen ihrer Verbindungen zur früheren Führung des Landes und wegen des Misstrauens der Öffentlichkeit  zurücktreten müssten. „Das armenische Volk betrachtet die Justizbehörde als Überbleibsel des früheren korrupten Systems, in dem Verschwörungen gegen das Volk ständig ausgebrütet und durchgeführt wurden. […] Die Öffentlichkeit muss über die politischen Bindungen, die Herkunft, des Vermögens sowie über die momentanen und vergangenen Aktivitäten der Richter und ihre Fähigkeiten umfassend informiert sein. […] Die Richter, deren Entscheidungen zu Urteilen gegen Armenien geführt haben, die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EMRK) erlassen wurden, müssen zurücktreten, gehen oder entlassen werden“, sagte Paschinjan nach dem Treffen.  

Paschinjan hat außerdem über ein angebliches Komplott der „alten korrupten Eliten“ gegen ihn gesprochen. Diese Kräfte würden versuchen einen Keil zwischen die Armenier in Armenien und denen in Bergkarabach zu treiben, um die eigenen Korruptionsverbrechen zu vertuschen oder zu rechtfertigen. Der armenische Premierminister legte nahe, dass die alten Eliten einen Krieg planen, die zu territorialen Verlusten führen würden, und die Verantwortung dafür der Regierung zuschreiben wollen. Solche Aktivitäten seien einem Landesverrat gleichzusetzen, und als Oberbefehlshaber Armeniens werde er dagegen hart und entschieden vorgehen, kündigte Paschinjan an. Darüber hinaus forderte Paschinjan, eine parlamentarische Kommission zur Untersuchung aller Umstände der Kampfhandlungen zwischen Armenien und Aserbaidschan im April 2016, welche auch „Vier-Tage-Krieg“ genannt werden, einzuberufen.

Es dürfte kein Zufall gewesen sein, dass am 19. Mai das Auto von Vitaliy Balasanjan, dem Vorsitzenden des Sicherheitsrates von Bergkarabach, bei der Einfahrt nach Jerewan von der Polizei gestoppt und nach illegalen Waffen durchsucht wurde. Balasanjan versprach diese Aktion „nicht unbeanwortet“ zu lassen. Das Verhältnis zwischen Nikol Paschinjan und Vitaliy Balasanjan gilt als sehr angespannt. Generell gerät die militärpolitische Elite der Bergkarabach-Armenier immer stärker in die Ungnade des armenischen Premierministers. Die Unterstützung aus Bergkarabach für Robert Kotscharjan, den Erzfeind Paschinjans, ist dafür der Auslöser. Am 10. Mai warnte der armenische Regierungschef davor, „Bergkarabach in ein Nest der Konterrevolution zu verwandeln“. Ansonsten würde es zu einer Revolution in Bergkarabach selbst kommen. Am 20. Mai rief Paschinjan die Bergkarabach-Armenier offen auf, sich hinter das Volk und die Regierung von Armenien zu stellen, und die „anderen Kräfte“, also seinen politischen Gegner in Bergkarabach, abzulehnen.

Am 20. Mai, zwei Stunden nach seiner Rede, fasste Paschinjan über einen Facebook-Post die Proteste zusammen. „Das heutige Vorgehen hat seinen Zweck erfüllt. Der Prozess der Errichtung eines unabhängigen Justizsystems in Armenien hat begonnen und ist unvermeidlich geworden“, hieß es in dem Beitrag.

Der überstürzte Schritt Paschinjans gegen das armenische Justizsystem löste sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene negative Reaktionen aus.

Die regierende „Mein Schritt“ -Fraktion bestreitet, dass der Protestaufruf von Paschinjan etwas mit der Entscheidung des Gerichts zu tun hat, Kotscharjan freizulassen. Der Fraktionsführer, Lilit Makunts, sagte, dass die Entscheidung von Paschinjan nur zufällig mit der Entscheidung des Gerichts „überlappe“.

Die Vertreter von „Prosperierendes Armenien“ (BHK) kritisierten Paschinjans Schritte als Versuch, die verfassungsmäßige Ordnung Armeniens zu stürzen. Gevorg Petrosian vom BHK befürchtet, dass dieser Schritt zu einem „Bürgerkrieg“ in Armenien führen könnte. Die Partei forderte öffentlich, dass die Regierung keine „verfassungswidrigen Maßnahmen“ ergreift.

„Helles Armenien“ (LHK), die andere im Parlament vertretene Oppositionspartei, warf Paschinjan vor, „die Verwaltung zu stören, die versucht Tausenden von Menschen Gerechtigkeit zu bringen“ und damit ihre verfassungsmäßigen Rechte sowie die internationalen Verpflichtungen Armeniens zu verletzen. Die LHK-Vertreter forderten Paschinjan auf, seine Entscheidung zu überdenken, und appellierten an die Regierung, eine Dringlichkeitssitzung der Nationalversammlung einzuberufen, um ihre Bereitschaft zur Teilnahme an der „institutionellen Reformation des Justizsystems“ zu bekunden.

Die Mitglieder der ehemals regierenden Republikanischen Partei Armeniens (HHK) machten den Vorwurf geltend, der „beispiellose Druck“ auf die armenische Justiz verstoße nicht nur gegen die Verfassung, sondern auch gegen das Strafgesetzbuch des Landes. Sie warnten die armenischen Bürger, sich von den von Pashhinjan initiierten „gefährlichen und abenteuerlichen Verfahren“ fernzuhalten.

Der armenische Präsident Armen Sarkissian hat am 19. Mai eine Erklärung abgegeben, in der er alle Bürgerinnen und Bürger, unabhängig von ihrer öffentlichen und politischen Position und ihrem Amt, auffordert, Frieden und Ruhe zu bewahren und die Verfassung und die Gesetze zu respektieren. „Die Tatsache, dass die demokratischen Prozesse in Armenien irreversibel sind, darf weder in Armenien noch im Ausland bezweifelt werden. Nach der Verfassung der Republik Armenien gehört die gesamte Macht dem Volke. Folglich müssen die Gewalten der armenischen Regierung - Legislative, Exekutive und Judikative - den kollektiven Willen der armenischen Bevölkerung widerspiegeln und ihren verfassungsmäßigen Zielen dienen“, sagte Präsident Sarkissian.

Der Ombudsmann des Landes, Arman Tatojan, verurteilte die Entscheidung von Paschinjan, da sie sehr gefährlich für die Sicherheit und Stabilität des Justizsystems in Armenien sei. „Jegliche Einmischung in die Tätigkeit der Gerichte und die Umsetzung der Justiz ist verboten. Das Erfordernis einer wirksamen gerichtlichen Befugnis im Land ist die vollständige Unabhängigkeit des Gerichts und der Richter, sowohl von der Legislative als auch von der Exekutive, von jedem anderen Organ oder vom einzelnen Beamten selbst“, heißt es in der Erklärung des Bürgerbeauftragten.

Der Direktor für Sonderforschung bei Freedom House, Nate Schenkkan, stufte Paschinjan nach seinem Versuch, die Gerichte zu sperren, als „Populisten“ ein. Die Gefahr im nachrevolutionären Armenien bestand immer darin, dass Paschinjan, falls er nicht in der Lage ist, das Land schnell oder nachhaltig zu verändern, auf den Populismus zurückgreift, der ihn an die Macht brachte. [Und] an dieser Stelle sind wir nun angekommen“, stand in Schenkkans Twitter-Post.

Die US-Botschaft in Armenien betonte auch ihre Besorgnis angesichts der jüngsten Entwicklungen. „Die Vereinigten Staaten verpflichten sich, mit den Armeniern zusammenzuarbeiten, um die Stärkung einer unabhängigen Justiz zu unterstützen, die Maßnahmen zur Korruptionsbekämpfung und den Aufbau rechtsstaatlicher Institutionen umfasst. Dies erfordert Entschlossenheit, Wachsamkeit und eine langfristige Strategie, um transparente und rechenschaftspflichtige staatliche Institutionen aufzubauen. Das armenische Volk hat deutlich gemacht, dass es diese Änderungen unterstützt, und wir ermutigen die Regierung, die Justizreform in einer Weise fortzusetzen, die der armenischen Verfassung entspricht“, heißt es in der offiziellen Erklärung der Botschaft.

Grant Mikaeljan, ein politischer Analyst, ist der Meinung, dass solche Maßnahmen zur Liquidation der unabhängigen Justiz in Armenien führen können. Eine ähnliche Ansicht teilt auch der Journalist Armen Gasparjan. Die Sperrung von Gerichten zeige, dass es in Armenien unter der neuen Regierung keine legitime Ordnung geben werde. „Die Hauptprobleme der modernen Ukraine haben begonnen, als die Regierung anfing, die Justiz zu zerstören, und in Ermangelung eines geregelten, normalen Rechtssystems hat die ukrainische Korruption im Vergleich zur Zeit Janukowitschs um das 4,5-fache zugenommen. Ich fürchte, wenn Herr Paschinjan auf diesem Weg bleibt, wird er seine Erfolge der letzten sechs Monate schnell zunichte machen und das Land in eine sehr schwierige innenpolitische Situation stürzen, weil jeder nachfolgende Politiker, der die Aktionen von Paschinjan betrachtet, der Meinung sein werde, dass er auch so handeln könnte“, sagte Gasparjan .

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