Dr. Nadja Douglas zur Pandemie, Konflikten und Krisen im Südkaukasus

Fotorechte: David Ausserhofer
Fotorechte: David Ausserhofer

Dr. Nadja Douglas ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien in Berlin. Sie arbeitet zu sicherheitspolitischen Fragestellungen sowie Staat-Gesellschafts-Beziehungen im postsowjetischen Raum.

- Herausforderungen im Gesundheitswesen und für die Wirtschaft sind eine Art Stresstest für die Regierungen der Südkaukasus-Staaten gewesen. Wie haben Armenien, Georgien und Aserbaidschan diese Prüfung bisher bestanden?

Sehr unterschiedlich. Während Georgien von der WHO und anderen westlichen Organisationen für sein vorbildliches Handling der Covid-19-Krise und die rechtzeitige Ergreifung von Maßnahmen gelobt wurde, konnte das Schlimmste in Armenien und Aserbaidschan bislang nur durch rigorosen Lockdown und drakonische Durchsetzung der Maßnahmen durch die Polizei- und Sicherheitskräfte verhindert werden.

In Armenien sind die Infektionszahlen nach der Lockerung des Lockdowns (wobei auch zu diesem Zeitpunkt noch keine Entspannung in Sicht war) wieder rascher angestiegen. Von allen drei Ländern verzeichnet es, gemessen an der Bevölkerungszahl, die höchsten Infektions- und Todeszahlen, wobei mittlerweile auch wieder ein leichter Anstieg in den beiden Nachbarländern zu verzeichnen ist. Das armenische Gesundheitssystem ist inzwischen deutlich an der Belastungsgrenze und der schlechte Zustand sowie der Reformrückstand kamen in der Krise deutlich zum Vorschein. Schlecht für das Image der Krisenbewältigung war außerdem, dass sich der Premierminister Nikol Paschinjan selbst infizierte und zudem in den letzten Wochen massiv von der Opposition kritisiert und ihm vorgeworfen wurde, bei der Bekämpfung der Pandemie versagt zu haben. Hier hat sich eine ungute Gemengelage ergeben zwischen Kritik an der Regierungsarbeit und Korruptionsbekämpfung mit dem Ausnutzen der Krise für politische Ziele und selektiver Justiz.

Was die langfristigen wirtschaftlichen Folgen anbetrifft, ist es noch zu früh konkrete Aussagen zu treffen. Alle drei Länder werden Blessuren davontragen, wobei anzunehmen ist, dass Armenien am meisten unter den Langzeitfolgen leiden wird. Es verfügt nicht über die Ressourcen und finanziellen Polster wie Aserbaidschan, ist im Reformprozess noch nicht so weit fortgeschritten wie Georgien, und wird viele noch am Anfang des Jahres optimistisch begonnene Projekte zur Ankurbelung der Wirtschaft und Investitionsförderung so nicht realisieren können. Auch der Rückgang von Rücküberweisungen aus dem Ausland, die in Georgien und Armenien immerhin 10-11% des BIP ausmachen, wird zu spüren sein.

Positiv hervorzuheben ist die staatliche Unterstützung für sozial Schwache und Unternehmen (vor allem KMU), in Georgien und Armenien. In diesen beiden Ländern haben in der Krise auch Zivilgesellschaft und Regierung eng zusammengearbeitet und tun es noch immer. Es wäre wünschenswert, wenn diese offene Haltung auch über die Krise hinaus aufrechterhalten würde.

- Die EU wird sich noch lange mit wirtschaftlichen und politischen Herausforderungen, die durch die Pandemie verursacht wurden, beschäftigen. Wie könnte sich die Krise auf die EU-Aktivitäten im Südkaukasus auswirken?

In der Region schaut man nun noch erwartungsvoller in Richtung EU. In der Krise war die EU Kommission, neben dem IWF, der Weltbank, der Asian Development Bank u.a., sehr präsent mit ihrem Nothilfepaket für die Staaten der Östlichen Partnerschaft. Es wurde auf für EU-Verhältnisse relativ unbürokratischem Weg Direkthilfen, die den unmittelbaren Bedarf abdecken, sowie großzügig bemessene makrofinanzielle Hilfen für die mittel-bis langfristige sozioökonomische Erholung gewährt. Das wurde durchaus positiv wahrgenommen. Das heißt aber auch, dass man in künftigen Krisen weiter auf die EU setzen wird. So eine Erwartungshaltung kann auch schnell wieder enttäuscht werden.

- Wie entwickelt sich das trilaterale Verhältnis zwischen Moskau-Eriwan-Baku, sehen Sie dort eine Verschiebung des Gleichgewichts? Gazprom hat trotz der mehrfachen Appelle der armenischen Regierung die Gaspreise nicht revidiert – ist das eine wirtschaftliche oder doch eine politische Frage?

Dieses Verhältnis war schon immer angespannt, aber erfährt derzeit eine echte Belastungsprobe. Es ist zwar mittlerweile fast Routine, dass im Frühjahr die Situation an der Kontaktlinie (LoC) spannungsgeladener ist (bedeutend sind hier vor allem die Jahrestage der Besetzung der Stadt Schuscha und des Bezirks Lachin). Dieses Mal erfolgten gegenseitige Anschuldigungen an bzw. in der Nähe der LoC Mörser verwendet zu haben. Die kürzlich durchgeführten Militärübungen Aserbaidschans, u. a. in Nachitschewan, können auch als Reaktion auf bzw. Verstimmung über eine Reihe vorangegangener Ereignisse verstanden werden. Zu nennen sind die Durchführung von Wahlen in Bergkarabach im März/April und die Anerkennung der Ergebnisse durch Paschinjan. Außerdem stieß die rigorose Ablehnung Paschinjans über eine schrittweise Lösung (Stufenplan) im Bergkarabach-Konflikt zu verhandeln auf Empörung in Baku. Der russische Außenminister Lawrow hatte aber gerade im April von einem Dokument gesprochen, das diese Option wieder in die Verhandlungen einbringen würde. Desweiteren hatte Paschinjan 2019 versucht, das Verhandlungsformat dahingehend zu verändern, indem er wiederholt gefordert hatte das Defacto-Regime in Bergkarabach zurück an den Verhandlungstisch zu holen. Man muss dazu sagen, dass die Lage für den Premierminister nicht gerade leicht ist, da er einen ständigen Balanceakt vollführt, um weder die Eliten in Bergkarabach, die für ihn innenpolitisch gefährlich sind, zu vergrämen, noch den Friedensprozess im Ganzen aufs Spiel zu setzen.

Insgesamt stellen diese Entwicklungen eine erneute Abkehr beider Seiten vom Friedensprozess dar. Dabei hatten Anfang 2020 noch eine Reihe von der OSZE Minsk Gruppe begleitete persönliche Gespräche zwischen den beiden Außenministerien in Genf stattgefunden. Insgesamt hat nun Aserbaidschan wieder rhetorisch (und wahrscheinlich auch reell) aufgerüstet und sucht proaktiver die Unterstützung Russlands.

Die Frage des Gaspreises ist aus russischer Sicht wohl eher eine wirtschaftliche, da es von dauerhaft niedrigeren Gaspreisen ausgeht und einen Dominoeffekt in der Region fürchtet. Senkt Russland die Preise für Armenien, folgen Weißrussland und Kirgisistan. Russland kann vor dem Hintergrund, dass sich Armeniens Wirtschaft im letzten Jahr durchaus positiv entwickelt hat, in einer Phase der eigenen Rezession nicht weiter Zugeständnisse machen.  Auf der anderen Seite wird natürlich das Defacto bestehende Monopol über Gaslieferungen ausgenutzt und Armenien in einem Abhängigkeitsverhältnis gehalten.

Hinzu kommt, dass man in Moskau verstimmt ist über die laufenden Ermittlungen gegen das Südkaukasische Eisenbahnunternehmen, das zu 100 Prozent in der Hand der Staatlichen Russischen Eisenbahnen ist. Eine weitere Konfliktlinie scheint in der Verhaftung und dem Prozess gegen den ehemaligen Präsidenten Robert Kotscharjan zu liegen, der nach wie vor gute Beziehungen zum Kreml genießt.

- 2 Jahre sind seit der Samtenen Revolution in Armenien vergangen. Haben sich die internationalen und innerarmenischen Erwartungen an die neue Regierung erfüllt?

Die post-revolutionäre Phase ist immer eine sehr schwierige. Die Erwartungshaltung innen und außen war und ist riesig. Die Regierung genießt nach wie vor, so besagen es zumindest Meinungsumfragen vor der Corona-Krise, großes Vertrauen in der Bevölkerung. Allerdings sagen viele Experten, dass sich das Gelegenheitsfenster zur Implementierung wichtiger Reformen langsam zu schließen beginnt. Die Regierung hat viele sehr positive Entwicklungen angestoßen, um vor allem die sozioökonomische Lage im Land zu verbessern und die extreme Armut zu bekämpfen (Stichwort Rentenerhöhung, Erhöhung des Mindestlohns, Senkung der Einkommenssteuer). Ein weiterer sehr wichtiger Aspekt ist die erfolgreiche Korruptionsbekämpfung, gerade im Gesundheits- und Bildungssystem und teilweise der Strafverfolgung. Zentral ist auch die Entflechtung von Wirtschaft und Politik, die Entziehung von Privilegien, Zugang zu Ressourcen der alten Eliten und Oligarchen, die sich auf Kosten des Staates jahrzehntelang bereicherten. Andere Bereiche wie die Justizreform und auch die Reform des Sicherheitssektors sind bislang noch nicht erfolgreich gestartet bzw. gänzlich auf der Strecke geblieben. Die Regierung hat sich in der Zwischenzeit auch zahlreiche Feinde gemacht, nicht nur in den Reihen des alten Regimes, sondern teilweise auch in der Wirtschaft, unter Medienschaffenden und Umweltschützern. Das Krisenmanagement während der Corona-Pandemie und der Vorwurf der selektiven Justiz gegenüber alten Gegnern Paschinjans sind weitere Punkte, die die Regierung derzeit kritikanfällig macht.

- Der armenische Ex-Präsident wurde trotz der Corona-Epidemie und den Bürgschaften von hochrangigen Politikern zunächst nicht unter Auflagen entlassen. Wird gegen ihn eine selektive Justiz angewandt, ähnlich wie gegen Timoschenko in der Ukraine? Inwiefern belastet der Fall die armenisch-russischen Beziehungen?

Mittlerweile wurde Kotscharjan gegen eine Kaution auf freien Fuß gesetzt. Die Ermittlungen gegen ihn dauern an und das Urteil im Prozess muss abgewartet werden. Allerdings wäre es nicht zuträglich, wenn das Ganze den Anschein eines Schauprozesses bekäme. Dass die armenisch-russischen Beziehungen durch den Fall belastet werden, lässt sich daran ablesen, dass russische Vertreter die eigene Interpretation Kotscharjans übernommen haben und von einer „politischer Vendetta“ sprechen.  

- Welche politischen Kräfte betrachten Sie als echte Alternative für die amtierende Regierung in Armenien.

Die Regierung ist erst zwei Jahre im Amt und hat noch einen gewaltigen Berg Aufgaben vor sich, weswegen es verfrüht wäre über Alternativen zu sprechen. Die Armenier müssen in den nächsten regulären Wahlen die Arbeit der derzeitigen Regierung selbst bewerten.

- Sehen Sie wesentliche Risiken für eine Eskalation im Bergkarabach-Konflikt ähnlich wie 2016?

Tatsächlich ist die Situation in der Region wieder äußerst angespannt. Auch die Rhetorik auf beiden Seiten ist, wie zuvor beschrieben, wieder aggressiver geworden. Die gestiegenen Militär- und Rüstungsausgaben sowohl in Aserbaidschan als auch in Armenien sprechen ebenfalls für sich (laut SIPRI sind beide Länder unter den Top 10 der Staaten mit den größten Rüstungsausgaben). Es ist also nicht ausgeschlossen, dass es wieder zu einer militärischen Auseinandersetzung kommt.

- Wie schätzen Sie die Entwicklung in Bezug auf das Verfassungsgericht in Armenien ein? Wie erwarten Sie wird die internationale Reaktion ausfallen?

Die Situation scheint sich derzeit zuzuspitzen und nimmt Züge einer Verfassungskrise an. Es ist klar, dass die Kontroverse um das Verfassungsgericht eine Achillesferse der derzeitigen Regierung darstellt und bis auf Weiteres die demokratischen Entwicklungen sowie die Rechtsstaatlichkeit  im Land beeinträchtigen. Die am 22. Juni vom Parlament verabschiedeten Verfassungsänderungen, die eine Absetzung von Richtern vorsieht, die bereits seit über 12 Jahren im Amt sind, sowie die Abgabe des Vorsitzes des Gerichtes an eine/n neu zu wählende/n Nachfolger/in, sind in vielerlei Hinsicht problematisch. Letztlich ist hier die Unabhängigkeit der Justiz in Gefahr. Es ist zudem bedauerlich, dass die Nationalversammlung bzw. die regierende Mehrheit die jüngsten Empfehlungen der Venedig-Kommission eine Übergangsphase einzuführen, nicht berücksichtigt hat. Vorschläge, die 2019 eingebracht wurden, Richter unabhängigen Überprüfungsprozesse zu unterziehen (im Sinne einer Übergangsjustiz) sollten die "Samtene Revolution" eigentlich vollenden, sind aber noch nicht richtig angelaufen. Das Thema Justizreform wird also weiterhin eine Schwachstelle bleiben. Ich denke, die internationale Reaktion wird sich überwiegend (zumindest der Europarat) an den Empfehlungen der Venedig-Kommission orientieren.

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