Deutschland, die EU und der Südkaukasus

Im Laufe des Jahres 2022 hat sich Deutschland allmählich von einem glühenden Gegner der EU-Erweiterung zu einem Befürworter gewandelt. Die Gründe dafür sind unterschiedlich, aber der Krieg in der Ukraine und die daraus resultierenden Veränderungen in den Beziehungen, der Verfügbarkeit von Energieressourcen und den abnehmenden wirtschaftlichen Kontakten mit Russland veranlassen Berlin dazu, ein stärkeres Engagement der EU in der Schwarzmeerregion und insbesondere im Südkaukasus zu unterstützen.

Die Zeitenwende-Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz am 27. Februar, einige Tage nach dem Beginn des verheerenden Krieges Russlands gegen die Ukraine, schien eine neue Ära für die deutsche Außenpolitik und die Wahrnehmung der Sicherheitsbedrohungen in Osteuropa einzuläuten.

Die Rede war, wie sich in den folgenden Monaten herausstellte, der Beginn eines umfassenden Prozesses, der das Programm für eine Veränderung der jahrzehntelangen außenpolitischen Grundsätze Deutschlands darlegte. Während alle Aufmerksamkeit auf Scholz' transformative Maßnahmen bei den Verteidigungsausgaben und Deutschlands Haltung gegenüber Russland gerichtet war, fand ein ebenso entscheidender Wandel in Deutschlands Ansatz zur Erweiterung der Europäischen Union statt.

Vor Russlands zweitem Einmarsch in der Ukraine war Europa anders, und Deutschland galt als einer der Verfechter des russischen Einflusses auf dem Kontinent. Die Abhängigkeit von russischem Gas wurde fälschlicherweise nicht als geopolitische Gefahr, sondern vielmehr als Zeichen gegenseitiger Abhängigkeit angesehen. Auch den Erweiterungsplänen der EU und der NATO-Osterweiterung stand Berlin sehr skeptisch gegenüber. So war die deutsche Position 2008 ausschlaggebend dafür, dass die Gewährung des Aktionsplans für die NATO-Mitgliedschaft (MAP) an Georgien und die Ukraine blockiert wurde. Auch die Aufnahme der Ukraine und Georgiens in die EU wurde bestenfalls als unpraktikabler politischer Schachzug angesehen. Beide Szenarien wurden von der deutschen politischen Elite als gefährliche Schritte angesehen, die den Beziehungen zu Russland schaden und dessen Außenpolitik radikalisieren würden. 

Stattdessen wurde der Verzicht auf die Osterweiterung als ein Rezept für stabile Beziehungen zu Moskau angesehen. Moskau wurde als äußerst pragmatischer Akteur betrachtet, der die Existenz der NATO und der EU tolerieren würde, aber verständlicherweise der Expansion dieser beiden westlichen Organisationen entlang der russischen Grenzen misstrauisch gegenüberstehen würde. Dieser Status quo schien zu funktionieren. Die deutschen Wirtschaftseliten bauten ihre Handelsbeziehungen zu Russland aus, während letzteres Berlin als Eckpfeiler seiner Beziehungen zur EU betrachtete. Die Annexion der Krim im Jahr 2014 und der Einmarsch in Georgien im Jahr 2008 wurden als Fehlentwicklungen im russischen Verhalten betrachtet und in den politischen Debatten in Deutschland kaum thematisiert.

Dieser politische Ansatz war jedoch mit Gefahren und praktischen Fehlern behaftet. Sie zeigte, dass die deutsche politische Elite die wahren Absichten Moskaus nicht ganz verstanden hat. Der Kreml sah in den engen Beziehungen zu Deutschland ein notwendiges Mittel, um die transatlantische Gemeinschaft zu spalten. Außerdem ahnten nur wenige, dass Moskau die Absicht hatte, sein territoriales Imperium wiederherzustellen. Jahrzehntelang wurden die Behauptungen zahlreicher Analysten und einiger Wissenschaftler, Russland sei bereit, eine neue Sowjetunion aufzubauen, sowohl in Deutschland als auch in weiten Teilen der EU verspottet. Doch Russland träumte nicht nur von der Vergrößerung seiner exklusiven Einflusssphäre, sondern tatsächlich von der Wiederherstellung des alten Russischen Reiches - eine weitaus gefährlichere Entwicklung als das Streben nach dem sowjetischen Modell. In dem neuen Russischen Reich, das sich die russische Führung vorstellte, sollten große Gebiete der Ukraine und anderer Nachbarländer eines Tages Teil des eigentlichen Russlands werden.

Die Fehler der deutschen politischen Eliten wurden im Februar 2022 deutlich, als Russland einen Großangriff auf die Ukraine startete, mit dem Ziel, die europäische Sicherheitsarchitektur durch den Aufbau einer exklusiven geopolitischen Einflusssphäre über die Nachbarstaaten zu verändern. Der Einmarsch löste in Deutschland ein grundlegendes Umdenken aus, nicht nur in Bezug auf Russland, sondern generell hinsichtlich der Zukunft der EU, der NATO und der transatlantischen Gemeinschaft.

Zunächst erkannte die deutsche Führung die Notwendigkeit, die EU zu erweitern. Bundeskanzler Scholz sagte in einer seiner öffentlichen Erklärungen: "Wir sind das Volk Europas, und unsere Stimme muss in ganz Europa gehört werden, vom Mittelmeer bis zur Nordsee, von Lissabon bis Tiflis und darüber hinaus".

In einem vieldiskutierten Gastbeitrag für die Zeitschrift Foreign Affairs schrieb Scholz: "Putin wollte Europa in Einflusszonen aufteilen und die Welt in Blöcke von Großmächten und Vasallenstaaten aufteilen. Stattdessen hat sein Krieg nur dazu gedient, die EU zusammenzubringen. Auf der Tagung des Europäischen Rates im Juni 2022 hat die EU der Ukraine und der Republik Moldau den Status von "Kandidatenländern" zuerkannt und bekräftigt, dass die Zukunft Georgiens in Europa liegt. Wir waren uns auch einig, dass der EU-Beitritt aller sechs Länder des westlichen Balkans endlich Realität werden muss, ein Ziel, für das ich mich persönlich einsetze. Deshalb habe ich den so genannten Berliner Prozess für den westlichen Balkan wiederbelebt, der die Zusammenarbeit in der Region vertiefen, die Länder und ihre Bürger einander näher bringen und sie auf die EU-Integration vorbereiten soll".

In einer anderen Passage desselben Artikels argumentiert er: "Es ist wichtig anzuerkennen, dass die Erweiterung der EU und die Integration neuer Mitglieder schwierig sein werden; nichts wäre schlimmer, als Millionen von Menschen falsche Hoffnungen zu machen. Aber der Weg ist offen, und das Ziel ist klar: eine EU, die aus über 500 Millionen freien Bürgern bestehen wird".

Das sind keine leeren Aussagen. Sie spiegeln die wachsende Einsicht in Deutschland wie auch in anderen europäischen Ländern wider, dass die beste Garantie gegen künftige russische Angriffe auf die Nachbarländer der Ausbau der europäischen Institutionen (möglicherweise mit Unterstützung der NATO) ist. Doch hinter diesen wohlwollenden Absichten verbergen sich veränderte geopolitische Umstände. Deutschland braucht die EU-Erweiterung, weil die EU jetzt verstärkt nach neuen Gas- und Ölvorkommen sucht. Deutschland und die EU als Ganzes suchen außerdem nach Alternativen zur nordeurasischen Transportroute, die größtenteils durch Russland führt und Europa mit Zentralasien und vor allem mit China verbindet. 

In beiden Fällen spielen das östliche Schwarze Meer und der Südkaukasus eine entscheidende Rolle. Die Route durch Georgien würde alternative Energieressourcen aus dem Kaspischen Meer sowie den Ausbau der Transportroute sichern, die heute modischerweise als Mittlerer Korridor bezeichnet wird. Die jüngste Unterzeichnung des Abkommens über die Entwicklung des 1.100 Kilometer langen strategischen Schwarzmeer-Unterwasserkabels für Elektrizität ist ein weiteres Zeichen dafür, welche geopolitische Orientierung der Ansatz der EU gegenüber der Schwarzmeerregion und dem Südkaukasus angenommen hat.

Die langfristige Perspektive ist somit günstig für Georgien und die gesamte Schwarzmeerregion. Die EU drängt nun, angetrieben durch eine veränderte Sichtweise in Berlin, auf ein stärkeres Engagement in der Region. Hierfür gibt es keine Garantien, aber in Anbetracht der bestehenden geopolitischen und geoökonomischen Trends (anhaltender Krieg in der Ukraine und Abkopplung des europäischen Energiebereichs von Russland) liegt es auf der Hand, dass Deutschland sein Engagement für die EU und vielleicht sogar für die Osterweiterung der NATO verstärken wird. In Anbetracht der Gewährung einer europäischen Perspektive für Georgien im Juli 2022 kann man auch sagen, dass Tiflis nun gute Chancen hat, den Status eines europäischen Kandidaten zu erhalten.

Emil Avdaliani ist Professor an der Europäischen Universität und Direktor für Nahoststudien beim georgischen Think-Tank Geocase.

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