Die beständige Außenpolitik der Türkei
Trotz der transformativen Wahlen Mitte 2023 wird die türkische Außenpolitik wahrscheinlich keine strukturellen Veränderungen erfahren. Das Streben nach größerem Einfluss in den Nachbarregionen, insbesondere im Südkaukasus, wird weiterhin im Mittelpunkt der Außenpolitik Ankaras stehen.
Für die Türkei könnte das Jahr 2023 einen Wendepunkt im innen- und außenpolitischen Leben darstellen. Unabhängig davon, wer gewinnt, werden die anstehenden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen den Kurs der inneren Entwicklung der Türkei bestimmen. Ob dies auch auf die Außenpolitik Ankaras zutrifft, ist eine ganz andere Frage. Subtile Veränderungen sind unvermeidlich.
Die Rolle der Türkei in der NATO könnte neu überdacht werden; Ankara könnte die Zusammenarbeit mit dem Bündnis in einer Reihe von Fragen verstärken, die von der Sicherheit bis hin zum Militär reichen, was bisher umstritten war. Ebenso sind Bemühungen um einen Abbau der Spannungen mit den USA oder Griechenland zu erwarten. Radikale außenpolitische Veränderungen sind jedoch nicht zu erwarten. Es ist unwahrscheinlich, dass eine mögliche neue türkische Regierung von dem Weg abweicht, die Rolle der Türkei in den angrenzenden Regionen zu stärken. So wird die Türkei beispielsweise im Südkaukasus weiterhin die Entwicklung der Ost-West-Infrastruktur fördern, was wiederum für den expandierenden Mittleren Korridor, der das Schwarze Meer mit Zentralasien/China verbinden soll, von großer Bedeutung sein wird.
Die aktive Außenpolitik der Türkei ist auch aufgrund ihrer geografischen Lage unvermeidlich. Die Türkei grenzt an fünf geopolitisch wichtige Regionen: an das Schwarze Meer, den Südkaukasus, Syrien und Irak, den Balkan und das Mittelmeer. Alle diese Gebiete stellen eigenständige geografische Räume dar, sind jedoch in irgendeiner Weise mit den anderen verbunden. In all diesen Regionen herrschen geopolitische Spannungen von unterschiedlicher Intensität.
Da Ankara die Schwächen Russlands sehr wohl kennt, versucht es außerdem, sich Moskaus Beschäftigung mit der Ukraine zunutze zu machen. Russlands Position im Südkaukasus ist notorisch instabil. Sinkendes Prestige, wirtschaftliche Schwächen, wachsendes Misstrauen gegenüber Verbündeten und vor allem die schweren militärischen Niederlagen in der Ukraine - all diese Trends sind nicht erst seit kurzem zu beobachten, sondern das Ergebnis langfristiger Entwicklungen, die sich über Jahre, wenn nicht Jahrzehnte erstrecken. Russland wird große militärische und wirtschaftliche Anstrengungen unternehmen und vor allem eine korrigierte Außenpolitik betreiben müssen, um seinen Einfluss im Südkaukasus und im Rest des einstigen sowjetischen Raums zu wahren.
Zweifellos ist der Südkaukasus für die Türkei im Hinblick auf ihre sich entwickelnden Beziehungen zu Zentralasien noch wichtiger geworden. Sowohl dort als auch im Südkaukasus wird es für Russland immer schwieriger, seine zentrale Stellung zu behaupten. Außerdem wollen die zentralasiatischen Länder nicht nur im Rahmen der oft genannten russisch-chinesischen Dominanz agieren, die sich darum bemüht, nicht-regionalen Akteuren den Zugang zu Zentralasien zu versperren. Um erfolgreich zu sein, versuchen die zentralasiatischen Staaten, nicht-regionale Kräfte anzuziehen, und in dieser Hinsicht ist die Türkei eine gewichtige wirtschaftliche und politische Kraft.
Ähnliche Prozesse entwickeln sich in der weiteren Schwarzmeerregion, die auch den Südkaukasus umfasst, wo die drei kleinen Länder Armenien, Aserbaidschan und Georgien in unterschiedlichem Maße eine stärkere Beteiligung nicht-regionaler Mächte in der Region anstreben. In der Geschichte der Schwarzmeerregion und des Südkaukasus hat eine wahrhaft multipolare Phase begonnen, in der mehrere große Akteure wie die Türkei, der Iran, Russland, die USA, die Europäische Union und China gleichzeitig um die Vorherrschaft in der Region ringen. Dies ist das Ende der postsowjetischen Periode im Südkaukasus: Russland ist nicht mehr der Hauptakteur, sondern zunehmend ein gleichberechtigter Akteur unter vielen anderen. Der Iran, die EU und vor allem die Türkei verfügen nun über mehr Instrumente, um die Region zu beeinflussen. Dies ermöglicht es den kleinen Ländern des Südkaukasus heute, außenpolitisch mehr zu bewegen und ihre Positionen potenziell deutlich zu stärken.
Gleichzeitig werden die Beziehungen Ankaras zu Russland pragmatisch, aber dennoch hart umkämpft bleiben. Von Syrien bis zum Südkaukasus werden beide Seiten darum bemüht sein, sich ein größeres Instrumentarium für die Machtprojektion zuzulegen. Moskau verabscheut Ankaras Ansehen und sein Bündnis mit Aserbaidschan, fürchtet aber auch die Entstehung eines türkischen Bogens entlang seiner Südgrenze vom Schwarzen Meer bis nach Zentralasien.
Die Türkei und Russland werden jedoch bei solchen allgemeineren Themen im Wettbewerb mit dem liberalen Internationalismus kooperativ bleiben. Während Russland seine vollständige Zerstörung anstrebt, ist der Ansatz der Türkei gegenüber der liberalen Ordnung nuancierter: Ankara möchte, dass einige Elemente dieser Ordnung verändert oder zurückgedrängt werden. Die beiden werden jedoch weiterhin ähnliche Vorstellungen von "Regionalismus" haben, wenn kleine Regionen zwischen Russland und der Türkei von dem Einfluss nicht-regionaler Akteure "freigehalten" werden sollen.
Indem es Russland näher an sich heranlässt, aber auch mit Moskau konkurriert, hat Ankara gelernt, seine Vorteile zu maximieren. Diese Taktik (manche würden sie sogar zu Recht als Strategie bezeichnen) hat sich bisher bewährt, und angesichts der steigenden geopolitischen Bedeutung des Krieges in der Ukraine wird Ankaras Ansehen in der globalen Geopolitik weiter wachsen.
Daher werden die Spannungen zwischen der Türkei und einigen ihrer Nachbarn wahrscheinlich anhalten, da Ankara weiterhin nach einem größeren Einfluss strebt, der seinen Ambitionen auf allen fünf Schauplätzen entlang seiner Grenzen entspricht. Die Beziehungen zu Russland werden in der türkischen Außenpolitik einen entscheidenden Platz einnehmen. Aus Angst vor potenziellen Veränderungen des Machtgleichgewichts im Schwarzen Meer sollte Ankara natürlich versuchen, Moskaus exzessives Verhalten auszugleichen. Doch die Türkei könnte auch subtiler vorgehen. Sollte es Russland gelingen, den Krieg in der Ukraine zu gewinnen oder zumindest eine Zone exklusiven Einflusses einzurichten, wäre dies ein deutliches Signal an die Türkei, dass eine neue Ära der Einflusssphären angebrochen ist und dass Ankara seine Ziele im Nahen Osten und anderswo deutlicher zum Ausdruck bringen sollte.
Emil Avdaliani ist Professor an der Europäischen Universität und Direktor für Nahoststudien bei der georgischen Denkfabrik Geocase.