Die Vision der Türkei für den Großraum Kaspisches Meer

Die Unterstützung der Türkei für Aserbaidschan in seinem jüngsten Krieg gegen Armenien hat weitaus größere Auswirkungen. Aserbaidschan wird nun zunehmend als Sprungbrett für die Türkei gesehen, um Zentralasien zu erreichen. Dort könnte Ankara sein bedeutendes kulturelles Gewicht und die Bereitschaft der zentralasiatischen Staaten, ihre Außenbeziehungen weg von Moskau und Peking zu diversifizieren, ausspielen.

Der Zweite Bergkarabach-Krieg hatte ein unerwartetes Ergebnis. Die Beziehungen der Türkei zu Zentralasien haben sich deutlich verbessert. Das soll nicht heißen, dass Ankara nicht schon vor 2020 versucht hat, engere Beziehungen zu der von verwandten türkischsprachigen Ländern dominierten Region aufzubauen. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion unternahm Ankara erhebliche Anstrengungen, um in Zentralasien Fuß zu fassen. Es wurde jedoch durch den Mangel an angemessenen strategischen Ressourcen behindert, da russische Sicherheitsgarantien und die zunehmende wirtschaftliche Präsenz Chinas ein starkes Hindernis darstellten. Jetzt wird jedoch erneut versucht, den türkischen Einfluss in der Region auszuweiten.

Die langfristigen Gründe variieren. Ankara strebt eine stärkere Position in Zentralasien an, da das Land diversifizierte Energiequellen benötigt. Obwohl die türkische Regierung 2020 große Gasfunde im Schwarzen Meer verkündet hat, ist das Land immer noch weitgehend von externen Energielieferungen abhängig. Die Suche nach neuen Energiequellen und die Sicherstellung, dass weder Russland noch der Iran ein Monopol auf die Energietransportkorridore haben, ist daher ein wichtiges geopolitisches Anliegen der Türkei.

Die Türkei betrachtet das Kaspische Meer auch als einen wichtigen Teil des Mittleren Korridors. Dieser soll Pekings massive Belt and Road Initiative ergänzen. Beide Initiativen sind im Wesentlichen komplementär. So unterzeichneten Ankara und Peking 2015 eine Absichtserklärung zur Angleichung der beiden Initiativen. Die Türkei sieht im Mittleren Korridor eine wichtige Möglichkeit, eine Brücke nach Zentralasien zu schlagen. Ende 2020 wurden zum ersten Mal Züge von der Türkei nach China und zurück über die Strecke Baku-Tiflis-Kars geschickt.

Hier ist Aserbaidschans Position für die Türkei wichtig. Diese ermöglichte das im Januar 2021 unterzeichnete Abkommen zwischen der Türkei und Turkmenistan. Ziel des Abkommens ist die gemeinsame Erschließung des Gasfeldes Dostluk (Freundschaft) im Kaspischen Meer. Die Türkei war im Februar auch Gastgeber eines trilateralen Treffens mit den Außenministern Aserbaidschans und Turkmenistans. Dort befasste sich die Türkei mit den Fortschritten im Zusammenhang mit Dostluk, da dadurch möglicherweise ein wesentliches Hindernis für die Umsetzung der viel gepriesenen Transkaspischen Pipeline (TCP) beseitigt werden könnte. Energiepolitische Interessen spielen bei Ankaras Vorstößen erneut eine wichtige Rolle. Im Idealfall könnte die TCP Gasströme durch den Südkaukasus nach Europa ermöglichen.

In dieser Frage wird die Türkei auf den Widerstand Russlands und des Irans stoßen, da die Interessen beider Länder darin übereinstimmen, Turkmenistan daran zu hindern, Gas nach Europa zu liefern. Turkmenisches Gas könnte in der Tat ein starker Konkurrent für russisches Gas auf dem europäischen Markt sein, aber um bei der Durchsetzung der TCP nennenswerte Ergebnisse zu erzielen, bräuchte Turkmenistan die Unterstützung von Großmächten, und die Türkei könnte eine davon sein. Vieles bleibt hypothetisch, aber die Beseitigung einiger Hindernisse ist in der Tat eine wichtige Entwicklung.

Ein Großteil der türkischen Ambitionen in der kaspischen und zentralasiatischen Region beruht auf der 1991 gegründeten Türkischen Kooperations- und Koordinationsagentur, die auf eine Intensivierung der kulturellen und wirtschaftlichen Beziehungen abzielte, sowie auf dem 2009 gegründeten Türkischen Rat. Letzterer wurde nach dem Beschluss des letzten Gipfels im November 2021 offiziell in Organisation der Turkstaaten umbenannt.

Hinter dem Vorstoß der Türkei steht auch eine rein geopolitische Eigendynamik. Während China und Russland in der Region eine große Rolle spielen, macht sich die Türkei den Wunsch der zentralasiatischen Staaten zunutze, ihre Außenbeziehungen weg von Moskau und Peking zu diversifizieren. Die Abhängigkeit von einer der beiden Mächte hat in der Region zuweilen zu Problemen geführt. Außerdem brauchen Kirgisistan und Turkmenistan Geld, was das Potenzial für die wirtschaftliche Durchdringung der Türkei erhöht.

Eine weitere interessante Komponente der türkischen Vision für das Kaspische Becken und Zentralasien besteht darin, dass sie sich mit der Strategie des Westens gegenüber Russland und den beiden Regionen deckt. Dies schafft das Potenzial für eine Zusammenarbeit zwischen der Türkei und dem Westen und ermutigt Ankara, in der kaspischen Region aktiver zu handeln.

Einschränkungen

Trotz dieser Dynamik, sich wieder in der Region zu engagieren, sieht sich Ankara auch mit Einschränkungen konfrontiert. Heute ist die Türkei selbstbewusster als in den 1990er Jahren, aber die Herausforderungen bleiben bestehen. Die Beziehungen zu China spielen dabei eine entscheidende Rolle. Trotz zahlreicher Versuche Chinas, engere Beziehungen zur Türkei zu knüpfen - einschließlich Investitionen in den Bereichen Industrie, Energie, Verkehr und Telekommunikation - ist es nicht zu bedeutenden Geschäften gekommen. Die Synergie zwischen dem Mittleren Korridor und der BRI muss erst noch hergestellt werden.

Eine weitere wichtige Einschränkung besteht darin, dass das Kaspische Becken und Zentralasien im Wesentlichen von größeren benachbarten Mächten abgeschottet sind. Im Kaspischen Meer beunruhigt die aktive Diplomatie der Türkei und die gelegentlichen militärischen Übungen zusammen mit Aserbaidschan Russland und den Iran, obwohl beide ihre Befürchtungen nicht öffentlich äußern. Tatsächlich wird das Kaspische Meer von Teheran und Moskau als ein Gebiet betrachtet, in dem sie nahezu exklusiv tätig sind. Der Vertrag über das Kaspische Meer von 2018 sieht vor, dass die Anrainerstaaten keine militärischen Aktivitäten von Nicht-Regionalstaaten zulassen. Um ihre wachsenden Ambitionen mit konkreten Schritten zu untermauern, muss die Türkei also vorsichtig vorgehen, um nicht den Widerstand Russlands und des Irans hervorzurufen, während sich die Aufmerksamkeit des Westens von Westasien auf die indopazifische Region verlagert.

Emil Avdaliani ist Professor an der Europäischen Universität und Direktor für Nahoststudien beim georgischen Think-Tank Geocase.

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