Armenien und Russland: Auf dem Weg zu einer neuen Art von bilateralen Beziehungen

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Durch Russlands Engagement in der Ukraine und die Ungewissheit im Zusammenhang mit dem Friedensprozess in Bergkarabach verändern sich die Beziehungen zwischen Armenien und Russland grundlegend. Es zeichnet sich eine neue Art von bilateralen Beziehungen ab, die durch den sich entfaltenden Wettbewerb der Großmächte im Südkaukasus geprägt sind.

Armenien ist, wie andere Staaten des Südkaukasus, in eine Ära des Großmachtwettbewerbs eingetreten. Es verfügt nicht über ausreichende Fähigkeiten, um diesen zu gestalten, aber es beeinflusst ihn auf vielfältige Weise. Der Wettbewerb der Großmächte im Südkaukasus findet zwischen der Türkei, Russland und dem Iran statt, wenn diese um den strategisch wichtigen Raum für wirtschaftlichen, energetischen, militärischen und diplomatischen Einfluss wetteifern. Hinzu kommen die EU und die USA, die ebenfalls ihren Einfluss in der Region vergrößern wollen. Dieser verschärfte Wettbewerb inmitten der sich wandelnden globalen Ordnung macht den Südkaukasus für die Mächte außerhalb der Region besonders wichtig.

Die traditionellen Beziehungen zwischen den Großmächten und den Staaten des Südkaukasus verändern sich im Zuge des sich entfaltenden Großmachtwettbewerbs. Mit anderen Worten: Der Großmachtewettbewerb in der Region ist einer der Hauptgründe für die wachsende Ambivalenz in den Beziehungen zwischen Russland und Armenien. Beim Wettbewerb der Großmächte geht es um die Fluidität der Beziehungen, wenn keine konkreten Bündnisse so funktionieren, wie sie es traditionell taten. Vielmehr geht es um Anpassungsfähigkeit an bestehende Herausforderungen und sich bietende Chancen, was bedeutet, dass offizielle Verbündete oft außer Acht gelassen werden können.

Armenien erlebt diese ungünstige Situation in seinen Beziehungen zu Russland spätestens seit 2020, als Aserbaidschan den Zweiten Bergkarabach-Krieg entscheidend gewann. Seitdem ist die Position Russlands zu Armeniens geopolitischer Notlage ambivalent, zumindest aus der Sicht Eriwans. Russland hat jedoch nach seinen nationalen Interessen gehandelt, wozu auch die Aufrechterhaltung guter Beziehungen zu Aserbaidschan gehört. Aserbaidschan wird von Moskau als einflussreicherer Akteur angesehen. Als kritisches Bindeglied im Nord-Süd-Transportkorridor zwischen Russland und dem Iran, als wichtiger Gasproduzent und als wichtiger Knotenpunkt in der Ost-West-Verbindung zwischen Europa und Zentralasien/China wurde die Rolle Aserbaidschans in der russischen Außenpolitik verstärkt.

Armenien hingegen wurde von Moskau als ein Akteur betrachtet, der kaum eine andere Wahl hat, als Russlands wechselndem Kalkül im Südkaukasus zu folgen. Eriwan könnte seinen Unmut über den Zustand seines Bündnisses mit Moskau äußern, aber es kann wenig tun, um Russland zu einer Änderung zu zwingen.

Dennoch ist eine wichtige rote Linie auf psychologischer Ebene überschritten worden: Eriwan hat kein Vertrauen mehr in sein Bündnis mit Moskau. In der jüngsten Runde gegenseitiger Kritik argumentierte der armenische Ministerpräsident Nikol Paschinjan im Januar, dass die russischen Truppen auf armenischem Boden keine Garantien für die Sicherheit des Landes bieten. Daraufhin sagte Eriwan sogar Übungen der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) ab, die in Armenien stattfinden sollten.

Was vor 2020 als unvermeidliche geopolitische Festlegung auf Moskau galt, wird nun in Armenien wiederholt in Frage gestellt. Das offizielle Bündnis zwischen den beiden Staaten wurde bereits in den 1990er Jahren unterzeichnet. Damals war der Südkaukasus noch eine ganz andere Region- Russland war eine sehr bedeutende Macht, die ihr Militär in der Region stationierte, während Armenien Bergkarabach im ersten Krieg um das Gebiet von 1988 bis 1994 eroberte. Doch seit 2020 bemüht sich Armenien um eine Diversifizierung seiner Außenbeziehungen durch eine Annäherung an die Türkei, ein stärkeres Engagement mit der EU und vor allem um eine engere Partnerschaft mit dem Iran, einem zunehmend wichtigen Akteur in der Region, in der der türkische Einfluss zunimmt und somit die Kerninteressen der Islamischen Republik bedroht. 

Ein weiterer Grund für das schwindende Verständnis zwischen Armenien und Russland ist das schwindende Ansehen Russlands, das sowohl auf den erfolglosen Krieg in der Ukraine als auch auf den Mangel an finanziellen Mitteln des Landes zurückzuführen ist. Dies wirkt sich auch auf Bereiche wie den nachlassenden russischen Multilateralismus aus. Risse, die innerhalb der OVKS und der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU) schon immer sichtbar waren, treten nun deutlicher zutage. Die unmittelbare Ursache ist Russlands Krieg gegen die Ukraine. Russland soll der Beschützer Armeniens sein und hat die Mittel, über die OVKS zu intervenieren, in der Armenien Mitglied ist und Aserbaidschan nicht. Doch der Kreml hat sich immer wieder taub gestellt, wenn Armenien forderte, dass die OVKS ihren Verpflichtungen nachkommt. Russland hat argumentiert, dass Bergkarabach kein armenisches Territorium sei und die OVKS-Sicherheitsverpflichtung daher nicht gelte. Selbst als Aserbaidschan armenisches Gebiet tief im Landesinneren und weit entfernt von Bergkarabach selbst bombardierte, entsandte Russland lediglich eine Erkundungsmission in den Südkaukasus. Die Botschaft war klar: Russland war nicht nur nicht willens, sondern auch nicht in der Lage, Armenien zu Hilfe zu kommen.

Russlands Ablenkungen und inhärente Schwächen hinterlassen ein Vakuum im Südkaukasus. Für Armenien ist dies sowohl eine gefährliche Entwicklung als auch eine geopolitische Chance. Wie bereits erwähnt, wird die armenische Außenpolitik diversifiziert, und eine mögliche Ausrichtung für Eriwan ist der Westen. Letzterer hat viel zu gewinnen, wenn er diese geopolitische Chance nutzt. Ende 2022 erklärte sich die EU bereit, eine Sondermission an die Grenze der beiden Länder zu entsenden. Es ist unklar, was diese Mission in der Praxis bewirken könnte, abgesehen von der Vertrauensbildung und vielleicht sogar der Erleichterung der Grenzüberwachung, aber der Schritt ist nichtsdestotrotz bemerkenswert, weil er eine Verlagerung von russischen zu EU-vermittelten Bemühungen bedeutet. 

Russland war bei den meisten Gipfeltreffen zwischen armenischen und aserbaidschanischen Anführern nicht anwesend. Das beunruhigt den Kreml, aber er kann kaum mehr tun, als verärgerte Erklärungen vom Rand aus abzugeben. Mit dem Ende der so genannten postsowjetischen Periode und Russlands Vorstellung von regionaler Hegemonie könnte nun also eine neue Ära beginnen.

Mit Blick auf die Zukunft ist es unwahrscheinlich, dass Armenien und Russland zu der früheren Form der Allianz zurückkehren, bei der Eriwan oft ohne Zögern der russischen Linie folgte. Stattdessen wird Moskau mehr Zeit und Ressourcen aufwenden müssen, um Eriwan zu überzeugen, sei es in Bezug auf Bergkarabach oder in anderen Fragen. Wie Aserbaidschan, wenn auch weniger energisch, stellt auch Armenien inmitten des Krieges in der Ukraine Russlands Entschlossenheit und Fähigkeit auf die Probe, seine einst beneidenswerte Position im Südkaukasus zu schützen. Auch Armenien wünscht sich eine Verringerung des russischen Einflusses, wenn auch nicht zu sehr, denn ein vollständiger Rückzug Russlands aus dem Südkaukasus würde für Eriwan ebenfalls nichts Gutes verheißen.

Emil Avdaliani ist Professor an der Europäischen Universität und Direktor für Nahoststudien bei der georgischen Denkfabrik Geocase.

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