Ein weiterer Krieg in Europa droht

Über die Autorin: Svenja Petersen ist Volkswirtin und hat an der SciencesPo Paris, der Freien Universität Berlin, der London School of Economics und dem Europakolleg in Natolin studiert. Sie arbeitet derzeit im Bereich der internationalen Entwicklungszusammenarbeit und ist als freiberufliche politische Analystin für verschiedene Medien tätig. 

Seit mehr als 60 Tagen dauert die Blockade des Latschin-Korridors, der Bergkarabach mit Armenien verbindet, nun schon an, und die Situation wird von Tag zu Tag bedrohlicher. Eine Eskalation scheint immer unvermeidlicher.

Vor mehr als zwei Monaten, am 12. Dezember 2022, blockierten aserbaidschanische Umweltaktivisten, die Berichten zufolge mit der Regierung in Verbindung stehen, den Latschin-Korridor. Nach Angaben der Aktivisten protestieren sie damit gegen den illegalen Abbau von Mineralien in Bergkarabach durch die örtlichen De-facto-Behörden. 

Der Latschin-Korridor ist sowohl die Lebensader als auch die "Achillesferse" von Bergkarabach, da er die einzige Verbindung zur Außenwelt darstellt. Wie verwundbar der nur 5 km breite Korridor ist, zeigt sich seit dem 12. Dezember 2022, als die Blockade des Latschin-Korridors und damit von Bergkarabach zu einer sich ständig verschärfenden humanitären Krise in der Region führte.

Ob die aserbaidschanischen Umweltaktivisten wirklich unabhängig sind und auf eigene Faust handeln, ist weitgehend umstritten. Verschiedene Quellen behaupten, dass einige der Demonstranten zu staatlichen Strukturen in Aserbaidschan gehören oder mit der aserbaidschanischen Regierung in Verbindung stehen.  Einige haben sogar behauptet, einige der Demonstranten seien aserbaidschanische Soldaten.

Auf die Bitte des amerikanischen Außenministers Antony Blinken, die Blockade aufzuheben, teilte der aserbaidschanische Präsident Ilham Alijew mit, dass es keine solche Blockade gebe. Der armenische Premierminister Nikol Paschinjan erklärte seinerseits, es gehe eindeutig darum, "den Willen der Armenier von Bergkarabach, in ihrer Heimat zu leben (...), zu brechen, und die Erwartung liegt darin, dass die Armenier von Bergkarabach ihre Häuser verlassen".

Die humanitäre Lage in Bergkarabach verschlechtert sich von Tag zu Tag. Armenischen Quellen zufolge hat Aserbaidschan in einigen Fällen vorübergehend die Strom- und Gasversorgung der Region unterbrochen. Auch das Internet ist wiederholt ausgefallen. Die Situation gerät zunehmend in eine Sackgasse, da keine Seite von ihrem Standpunkt abweicht. Die De-facto-Behörden von Bergkarabach beharren auf der vollständigen Unabhängigkeit von Aserbaidschan, während Armenien offenbar weit davon entfernt ist, Stepanakert militärisch zu unterstützen. Dies erhöht das Potenzial für eine Eskalation durch Aserbaidschan.

Wie sich die Situation genau entwickeln wird, ist derzeit schwer abzusehen. Inzwischen wird jedoch immer deutlicher, dass es wahrscheinlich zu einer weiteren Eskalation kommen wird. So zitiert die österreichische Zeitung Der Standard einen Kommentar von Rusif Huseynov, einem aserbaidschanischen Politikwissenschaftler und Leiter des Topchubashov-Zentrums in Baku: "Die Menschen in Aserbaidschan erkennen den Ausgang des Krieges im Jahr 2020 als Erfolg an, denken aber auch, dass das Ergebnis unvollständig ist. Dass ein Teil unseres Landes nicht unserer Gerichtsbarkeit unterliegt." Ein solcher Kommentar von einem der angesehensten Think Tanks Aserbaidschans kann als ziemlich richtungsweisend betrachtet werden. In einer Zeit, in der Aserbaidschan eine Schlinge um das Gebiet von Bergkarabach legt, ist ein solcher Kommentar ein deutlicher Hinweis darauf, dass Aserbaidschan auch diese Schlinge enger ziehen wird. Gleichzeitig kann sie als Eingeständnis gewertet werden, dass Aserbaidschan die trilaterale Erklärung von 2020 auf Dauer nicht akzeptieren wird und weiterhin Anspruch auf die Reste des armenisch kontrollierten Bergkarabach erhebt. Und es kann auch als Eingeständnis gewertet werden, dass die Präsenz der selbst ernannten Umweltaktivisten, die übrigens auffallend oft Pelzmäntel tragen, in diesen Zeiten kein Zufall ist.

Lange Zeit galt die Blockade als Druckmittel Aserbaidschans gegen den armenischen Premierminister Nikol Paschinjan. Ziel dieses aserbaidschanischen Drucks war es wahrscheinlich, Bergkarabach zur Räumung und Übergabe an Aserbaidschan zu zwingen. Doch scheint Bergkarabach nicht das einzige Ziel der aserbaidschanischen Politik zu sein. Der aserbaidschanische Präsident Ilham Alijew hat Armenien wiederholt aufgefordert, einen Korridor freizugeben, der durch das international anerkannte Staatsgebiet Armeniens verlaufen würde. Dieser sogenannte Zangezur-Korridor würde das aserbaidschanische Kernland mit der Exklave Nachitschewan verbinden und von dort aus weiter in Aserbaidschans "Bruderstaat", die Türkei, führen. Dieser Korridor würde eine direkte Verkehrsverbindung zwischen Aserbaidschan und seiner Exklave schaffen, was den Handel ankurbeln und die Kosten für Aserbaidschan senken würde. Gleichzeitig würde er die pan-türkischen Ambitionen der Türkei fördern, indem er direkte Verkehrs- und Handelswege durch den Südkaukasus und weiter nach Zentralasien schafft.      

Paschinjan machte jedoch keine Zugeständnisse an Aserbaidschan. Vermutlich erhoffte er sich internationale Unterstützung aus dem Ausland, doch abgesehen von ein paar verbalen Verurteilungen durch europäische und amerikanische Politiker blieb diese aus. Es wird kein wirklicher Druck auf Aserbaidschan ausgeübt, die Blockade zu beenden, weder durch wirtschaftliche noch durch diplomatische Sanktionen. Im Gegenteil: Die EU kauft heute mehr Erdgas aus Aserbaidschan als je zuvor, um die russischen Importe zu ersetzen. Paschinjans Strategie, die Blockade auszusitzen, um internationale Hilfe zu erhalten, hat also nicht funktioniert.

Nun scheint Alijew die Geduld zu verlieren. Es gibt drei mögliche Szenarien, wie Aserbaidschan in Zukunft vorgehen könnte, um zu versuchen, ganz Bergkarabach zu erobern.

Das erste Szenario sieht vor, dass Aserbaidschan die Belagerung so lange aufrechterhält, bis es für die Einheimischen fast unerträglich wird, dort zu leben. In einem solchen Moment könnte Aserbaidschan den Latschin-Korridor in Richtung Armenien öffnen und erwarten, dass möglichst viele Armenier das Gebiet aus Angst, Hunger und Druck von sich aus verlassen. Dann bliebe das Gebiet für Aserbaidschan frei, um es zu erobern. Trotz der Aussage, dass es keine Blockade von Bergkarabach gibt, deutete eine Forderung des aserbaidschanischen Präsidenten Ilham Alijew im Januar 2023 genau auf ein solches Szenario hin. Er forderte die Armenier in Bergkarabach auf, entweder die aserbaidschanische Staatsbürgerschaft anzunehmen oder Bergkarabach zu verlassen. Interessanterweise sagte er, sie könnten das Land auch "mit den Friedenstruppen" verlassen, was darauf hindeuten könnte, dass die russischen Friedenstruppen auch in Aserbaidschan nicht mehr willkommen sind.

Das zweite Szenario könnte sein, dass Aserbaidschan an seiner Belagerung quasi dauerhaft festhält. Damit könnte Aserbaidschan eine humanitäre Katastrophe auslösen, der eine große Zahl von Menschen zum Opfer fallen würde. In der Folge könnte Aserbaidschan das Gebiet einnehmen. Dieses Szenario macht deutlich, wie wichtig der Zeitfaktor ist. Je länger die Blockade anhält und je länger Aserbaidschan keine Konsequenzen erfährt, desto bedrohlicher wird die Lage der Menschen in Bergkarabach. Allerdings ist auch dieses Szenario für Aserbaidschan relativ riskant, denn niemand weiß, wie lange die Menschen in Bergkarabach der Blockade standhalten und ob sie sich - vor allem im nahenden Frühjahr - relativ autark versorgen können. Es gibt auch Überlegungen, eine Luftbrücke zwischen Armenien und Bergkarabach einzurichten, zum Beispiel durch die Eröffnung des Flughafens von Stepanakert, aber diese Option scheint nicht realistisch zu sein, da das Gebiet von Bergkarabach international als Teil Aserbaidschans anerkannt ist. Mit der Zeit könnte auch der Druck auf Aserbaidschan zur Aufhebung der Blockade zunehmen. Daher ist dieses Szenario weniger wahrscheinlich, denn früher oder später wird Aserbaidschan versuchen zu handeln und Fakten zu schaffen, bevor sich die Lage wieder ändern könnte.

Aserbaidschan könnte in einem dritten Szenario eine große Militäroffensive auf Bergkarabach starten. Dies ist ein sehr wahrscheinlicher Ausgang, da Aserbaidschan wiederholt versucht hat, Bergkarabach militärisch zu erobern, und seine viel besser ausgerüstete Armee nun die wichtigsten strategischen Höhen in der Region kontrolliert. Durch das Ausbleiben von Lebensmittel-, Medikamenten- und Waffenlieferungen nach Bergkarabach erscheint dieser Zeitpunkt aus aserbaidschanischer Sicht ideal.

Welches dieser Szenarien eintreten wird, hängt auch von Russland ab, das eigentlich mit seiner vermeintlichen Friedenstruppe den Latschin-Korridor sichern soll. Dennoch tolerieren die russischen Streitkräfte die Blockade durch Aserbaidschan. Es bleibt jedoch die Frage, ob und wann Russland eingreifen wird.     

Die Rolle Russlands in dieser Situation bleibt unklar. Es wird behauptet, dass Russland, das als Beschützer Armeniens gilt, nur dann für Armenien eingreifen wird, wenn Armenien Zugeständnisse an Russland macht, die Russlands Position im postsowjetischen Raum stärken. Ein solches Zugeständnis könnte der Beitritt Armeniens zum weißrussisch-russischen Unionsstaat sein. Der Vorsitzende des armenischen Sicherheitsrates, Armen Grigoryan, deutete öffentlich an, dass Moskau eine solche Forderung stellt. Dies wurde jedoch später sowohl vom Kreml als auch vom armenischen Premierminister dementiert.

Andere Behauptungen deuten darauf hin, dass Aserbaidschan in letzter Zeit für Russland ein viel attraktiverer Partner als Armenien geworden ist, da Russland sein Erdgas über Aserbaidschan weiterverkaufen kann und so die westlichen Sanktionen umgeht. Dies könnte dann bedeuten, dass Moskau Aserbaidschan in Bergkarabach freie Hand lässt, weil sich der Kreml von einer Zusammenarbeit mit Baku mehr Gewinn verspricht als mit Eriwan.

Es ist aber auch davon auszugehen, dass Russland sich nicht weiter in den Konflikt einmischen kann und will, da sein militärischer und menschlicher Verschleiß im Ukraine-Krieg bereits zu hoch ist. Aus dieser Perspektive scheint ein neuer Krieg in Bergkarabach fast unvermeidlich. Daher ist es eine tickende Zeitbombe.

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