Georgien und die EU: Geopolitik und moralische Verantwortung

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Die Beziehungen zwischen Georgien und der EU haben sich im vergangenen Jahr deutlich verbessert. Die Gründe dafür sind vielfältig, aber da beide Seiten vor einer wichtigen Entscheidung darüber stehen, ob Brüssel Tiflis den lange aufgeschobenen Kandidatenstatus gewähren soll, muss die EU die Gesamtsituation strategisch betrachten.

Die bevorstehende Entscheidung der EU über die Zuerkennung des Kandidatenstatus an Georgien ist ein entscheidender Moment für das Land und vielleicht für den gesamten Südkaukasus. Es steht in der Tat viel auf dem Spiel, denn die EU war noch nie so stark in den Südkaukasus involviert, der in der Tat vorher noch nie so wichtig für die Union war wie jetzt.

Der Krieg in der Ukraine hat die Dynamik in der gesamten Schwarzmeerregion verändert. Plötzlich wird die EU-Erweiterung nicht mehr als ein unwahrscheinliches Szenario angesehen. Georgien, Moldawien und die Ukraine haben auf ihrem jeweiligen Weg in die EU erhebliche Fortschritte gemacht. Doch Georgien hinkt hinterher, da dem Land erst 2022 eine EU-Perspektive gewährt wurde. Dies hat die Dynamik der Beziehungen zwischen Georgien und der EU verändert. Gegenseitige politische Anschuldigungen und Misstrauen sind an der Tagesordnung, und es gibt ernsthafte Bedenken darüber, wie der künftige Weg Georgiens in die EU aussehen wird.

Der Krieg in der Ukraine hat auch die seit langem etablierten Konnektivitäten auf dem eurasischen Kontinent und in erster Linie die Verbindungswege zwischen zwei großen Volkswirtschaften verändert: China und der EU. Der nördliche Handelskorridor, der größtenteils durch Russland verläuft, ist nun aufgrund der vom Westen gegen Moskau verhängten Sanktionen teilweise aufgegeben worden.

Infolgedessen ist der Südkaukasus zum geografisch günstigsten Transitgebiet geworden und bildet den so genannten Mittleren Korridor, der sich von der Türkei über Georgien und Aserbaidschan nach Zentralasien erstreckt. Es handelt sich also um einen multimodalen Korridor, der aus Meeren und gebirgigem Gelände besteht, was ihn jahrzehntelang zu einer weniger attraktiven Route für die eurasische Konnektivität machte. Nun zwingt die sich verändernde geopolitische Lage die Länder entlang des Mittleren Korridors und größere Akteure zum Umdenken, und die EU ist ein erstes Beispiel dafür. Sie muss dem Südkaukasus und insbesondere Georgien, das aufgrund seiner traditionell engen institutionellen Beziehungen zur EU nun eine echte Brücke zum Kaspischen Meer und zur zentralasiatischen Region bildet, mehr Aufmerksamkeit schenken.

Darüber hinaus ist der Südkaukasus zu einem Transitgebiet für die EU geworden, um ihre wachsende Energieunabhängigkeit von Russland zu sichern. In dieser Hinsicht spielt Aserbaidschan eine Schlüsselrolle, wofür das Mitte 2022 von Brüssel mit Baku unterzeichnete Gasabkommen zur Steigerung der Einfuhren von kaspischem Gas das beste Beispiel ist. Längerfristig blickt die EU auch auf Turkmenistan mit seinen gewaltigen Gasreserven und dem potenziellen transkaspischen Pipelineprojekt.

Für die EU ist Georgien auch deshalb ein notwendiger Partner, weil Brüssel im Bergkarabach-Konflikt mit Armenien und Aserbaidschan stark engagiert ist. Selbst wenn die Brüsseler Friedensinitiativen zunächst erfolgreich sind, wird es schwierig sein, den Frieden langfristig aufrechtzuerhalten, da Russland die neue Vereinbarung wahrscheinlich in Frage stellen wird. Daher braucht die EU eine solide Basis im Südkaukasus, und in dieser Hinsicht könnte Georgien eine positive Rolle spielen, indem es die Union sowohl mit Armenien als auch mit Aserbaidschan verbindet. Darüber hinaus werden die Fortschritte Georgiens auf dem Weg in die EU auch als positives Beispiel für seine südkaukasischen Nachbarn dienen. Beide ärgern sich über den übermäßigen russischen Einfluss und suchen nach außenpolitischen Alternativen. Ein aktiveres Engagement der EU in der Region würde als starkes Gegengewicht zu Moskaus Machtprojektion begrüßt werden.

Daher hat die EU im Südkaukasus viel zu verlieren, wenn sich die Situation dramatisch und zu Ungunsten des kollektiven Westens verändert. Dies könnte in der Tat geschehen, wenn Brüssel Georgien den Kandidatenstatus verweigert. 

Die Verweigerung des Status hätte mit Sicherheit geopolitische Auswirkungen. Russland würde die Gelegenheit ergreifen und mit ziemlicher Sicherheit versuchen, die Kluft zwischen Brüssel und Tiflis zu vertiefen. Dafür hat es mehrere Möglichkeiten. Eine davon ist wirtschaftlicher Natur. Russland ist bereits ein wichtiger Handelspartner Georgiens und könnte leicht noch engere Handelsbeziehungen knüpfen. Aber die Weigerung der EU würde auch einen Nachhall haben. Sie würde von ihren geopolitischen Rivalen als ein weiteres Zeichen für die Schwäche des Westens gewertet werden und dafür, dass die Länder des Südkaukasus nicht auf westliche Unterstützung hoffen sollten.

Daher ist es für die EU sinnvoll, über die Details des aktuellen Streits, der die Beziehungen zu Georgien dominiert, hinauszublicken und sich ein längerfristiges strategisches Bild zu machen. Die große Mehrheit der georgischen Bevölkerung hofft auf eine positive Entscheidung über den Kandidatenstatus, was eine Anerkennung der historisch engen Beziehungen zu Europa wäre. Es sollte auch gesagt werden, dass es ein unterschwelliges Gefühl der Verbitterung gibt, das seine Wurzeln in der lauwarmen Reaktion des Westens auf Russlands Invasion in Georgien hat. Trotz des aufrichtigen Enthusiasmus für die Integration in die westlichen Institutionen lag immer ein Gefühl des Verrats in der Luft.

Aus diesem Grund muss die EU geopolitisch denken. Frühere Erweiterungswellen waren zwar größtenteils von gemeinsamen Werten mit den neuen Mitgliedern abhängig, aber sie waren nie frei von geopolitischen und geoökonomischen Motiven. Beide Anreize sind im Falle Georgiens nun gegeben. Handelsrouten, Schienen- und Straßeninfrastruktur - das sind die Hauptgründe für den Vorstoß der EU in die östliche Hälfte der Schwarzmeerregion. Wenn keine konkreten Ergebnisse erzielt werden, besteht die Gefahr unbeabsichtigter Folgen. Auch Georgien sollte besonders vorsichtig sein. Seine innenpolitische Situation sollte in keiner Weise seine weitaus größeren außenpolitischen Ziele behindern - die Integration in westliche politische und militärische Institutionen.

Emil Avdaliani ist Professor für internationale Beziehungen an der Europäischen Universität in Tiflis und forscht zu verschiedenen Varianten der Seidenstraße.

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