David McAllister: Die EU ist bereit Friedensgespräche zu erleichtern

Europa steuert auf die Europawahlen im Juni 2024 zu, wobei die politische Polarisierung größer ist als der Konsens in der Außen- und Sicherheitspolitik. Das gilt auch für die Frage, wie die EU mit dem Kaukasus umgehen soll. 

Im Großen und Ganzen hat "der Westen" seine Prioritäten neu verhandelt. Washington, Brüssel und die einzelnen EU-Mitgliedstaaten haben unterschiedliche und nicht immer übereinstimmende Ansichten darüber, was eine Sicherheitsbedrohung in Europa darstellt. Oft sind die 27 Mitgliedstaaten hin- und hergerissen zwischen denjenigen, die ein Entgegenkommen anstreben, und denjenigen, die eine schärfere Auseinandersetzung mit Russland anstreben; denjenigen, die der wirtschaftlichen Entwicklung Vorrang einräumen, und denjenigen, die auf eine Konsolidierung der Verteidigungskapazitäten als einzige Grundlage für eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung drängen; denjenigen, die diese Krise als Ansporn für eine Dekarbonisierung betrachten; und denjenigen, die meinen, dass Kohlenwasserstoffe "unumgehbar sind", und die wollen, dass sich der Realismus durchsetzt. Die Bewältigung dieser Polarisierung ist die Herausforderung für die erste "geopolitische" Europäische Kommission. Diese Zersplitterung der Prioritäten prägt auch das Engagement im Kaukasus. 

Die politische Debatte ist ebenso substanziell wie polarisierend, und der Ehrgeiz der EU legt die Messlatte für diese Herausforderung noch höher. Die EU strebt nicht nur danach, ein geeinter außen- und sicherheitspolitischer Akteur zu sein, sondern auch ihr Sicherheitsumfeld zu beeinflussen und eine führende Rolle bei der Regulierung der Weltwirtschaft zu spielen. Caucasus Watch hat sich mit David McAllister, dem Vorsitzenden des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten des Europäischen Parlaments, dem Vizepräsidenten der Europäischen Volkspartei und einem prominenten Mitglied der (deutschen) Christlich Demokratischen Union (CDU), in Verbindung gesetzt, um eine kompetente Stimme für das europäische "Mainstream-Denken" in einem politischen Umfeld zu finden, das sich in Richtung Extreme bewegt. Wir analysieren den Konflikt in der Ukraine, die Spaltung der politischen Ideologien, die Umsetzung von Wirtschaftssanktionen, die Situation in der Kaukasusregion, die Verhandlungen zwischen Armenien und Aserbaidschan und den Prozess der Erweiterung bestimmter Institutionen.      

Deutschland hat sich auf die Energiekrise 2022 eingestellt, aber es stellt sich eine Frage. Haben Sie das Gefühl, dass die CDU mit Blick auf die Europawahlen im Juni 2024 die Vision einer neuen Industriepolitik formuliert hat, die nicht auf engen Beziehungen zu Russland beruht?  

Ja. Die CDU hat deutlich gemacht, dass wir ein Energiekonzept brauchen, das nicht von russischem Gas, Öl und Kohle abhängig ist. Das darf aber nicht zu weiteren Preissteigerungen für die deutschen Verbraucher führen, die schon jetzt einen der höchsten Energiepreise weltweit haben. Stattdessen müssen alternative Energieträger erschwinglicher werden. 

Aufgrund der mangelnden Mitwirkung der Bundesregierung schlägt die CDU seit langem ein umfangreiches Maßnahmenpaket vor, um dieses Ziel zu erreichen. Dazu gehören zum Beispiel eine Senkung der Strom- und Energiesteuer auf das europäische Mindestniveau, ein Stromsteuerrabatt für energieintensive Industrien, eine Ausweitung des Energiesteuergesetzes und eine verbindliche Umsetzung der Subventionsmöglichkeit für Übertragungsnetzentgelte. 

Außerdem müssen wir mehr in alternative Energien investieren. Dazu will die CDU die erneuerbaren Energien deutlich ausbauen, die Wasserstoffstrategie konsequent umsetzen und CO2-Abscheidungstechnologien vorantreiben. Darüber hinaus ist es eine schlichte Tatsache, dass wir an dieser Stelle nicht auf Atomkraft verzichten können. 

Die meisten Länder im Kaukasus haben im Jahr 2022 ein zweistelliges Wirtschaftswachstum verzeichnet. Der lukrativen Re-Exporttätigkeit wurde viel Aufmerksamkeit zuteil. Der Ursprung dieser Produkte liegt jedoch in Europa und den Vereinigten Staaten. Die Ausfuhr mittelgroßer Schienen aus Deutschland nach Russland über den Kaukasus hat sich verfünffacht. Einer Vielzahl von Berichten zufolge gelangen US-amerikanische Hochtechnologieprodukte von Intel, AMD, Texas Instruments, IBM, Dell und andere weiterhin über die Türkei oder die Emirate nach Russland. Ist der Westen in der Lage, auf diesem globalen Markt glaubwürdige Sanktionen zu verhängen?  

Die Sanktionen gegen Russland seit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine sind die weitreichendsten und härtesten Sanktionen, die die EU je verhängt hat - bisher wurden zwölf aufeinander folgende Pakete verabschiedet. Die Sanktionen zielen darauf ab, die russische wirtschaftliche und industrielle Basis, insbesondere den militärisch-industriellen Komplex, strategisch zu schwächen und damit Russlands Fähigkeit zu untergraben, den Krieg weiterzuführen. 

Die EU und ihre Mitgliedstaaten sind ständig darum bemüht sicherzustellen, dass die Sanktionen nicht umgangen werden. Da bereits umfangreiche Sanktionen in Kraft sind, müssen wir die Schlupflöcher untersuchen, die Russland und seine Helfershelfer ausnutzen. Mit dem am 18. Dezember 2023 verabschiedeten zwölften Sanktionspaket werden in dieser Hinsicht neue Maßnahmen eingeführt, wie z.B. Ausfuhrbeschränkungen und Ausfuhrkontrollen für Güter und Technologien mit doppeltem Verwendungszweck und für fortgeschrittene technologische und industrielle Güter und Technologien. 

Die Lieferung von Militärgütern und Gütern mit doppeltem Verwendungszweck führt zu anhaltendem Tod und Leid in der Ukraine. Wir sprechen mit unseren Handelspartnern über Exportkontrollmechanismen, um sicherzustellen, dass solche Güter nicht in die russische Militärindustrie gelangen. Allerdings müssen wir auch die Kontrolle und Rückverfolgung von Exporten aus der EU sicherstellen. Wie wirksam internationale Sanktionen sind, hängt von der Entschlossenheit, dem Zusammenhalt, der Zusammenarbeit, der Ehrlichkeit und der Einhaltung der Verpflichtungen der Staaten ab, die sie beschlossen haben. 

Die EU-Mitgliedstaaten sollten die Exportkontrollen ausweiten, um mehr Warenkategorien zu erfassen, die Exportkontrollen in den verschiedenen Rechtsordnungen anzugleichen und die Maßnahmen konsequent durchzusetzen, um Schlupflöcher zu schließen. Die EU und ihre Mitgliedstaaten müssen besondere Maßnahmen ergreifen, um zu verhindern, dass fortschrittliche Technologieprodukte, die in Nicht-EU-Länder exportiert werden, nach Russland gelangen, und sie müssen die Entwicklungen ständig überwachen, um herauszufinden, wie die Umgehung von Sanktionen funktioniert, und die Sanktionsregelungen entsprechend anpassen. 

Selbst wenn sie umgangen werden, haben die Sanktionen die Beschaffung von Schlüsselelementen für die russische Kriegsmaschinerie erschwert und verteuert. Doch Sanktionen allein werden den Krieg in der Ukraine nicht beenden. Wir müssen der Ukraine weiterhin alle notwendige Unterstützung zukommen lassen, insbesondere kontinuierliche und nachhaltige militärische Hilfe, während sie sich gegen die russische Invasion verteidigt und die vollständige Kontrolle über ihr gesamtes Territorium innerhalb ihrer international anerkannten Grenzen wiedererlangen will.

Wir erleben, was als "Aufstand der Mittelmächte" bezeichnet wurde. Indien diskutiert den Beitritt zur russischen Eurasischen Wirtschaftsunion und tritt damit in die Fußstapfen des Iran und der Vereinigten Arabischen Emirate. Viele Staaten äußern ihre Besorgnis über die so genannte "Bewaffnung der Finanzregulierung". Wie zuversichtlich können wir sein, dass die EU eine regulatorische Kraft bleiben wird, die in der Lage ist, globale Marktstandards zu setzen? 

Der zunehmende globale geopolitische Wettbewerb wirkt sich auch auf die Wirtschafts- und Handelsbeziehungen zwischen verschiedenen Ländern aus. Die Stärke der EU als globaler Akteur wird durch unseren Binnenmarkt untermauert. Er ist der größte Binnenmarkt der Welt, der 56 Millionen europäische Arbeitsplätze bietet und 25% des Bruttoinlandsprodukts der EU erwirtschaftet. 

Der Binnenmarkt feierte im vergangenen Jahr sein 30-jähriges Bestehen. Er hat sich in dieser Zeit erheblich gewandelt, und eine weitere Stärkung des Binnenmarktes ist entscheidend für Europas Fähigkeit, zentrale Herausforderungen wie den digitalen und grünen Wandel, künstliche Intelligenz, den Klimawandel oder auch die langfristigen geopolitischen Verschiebungen in der Welt zu bewältigen. Wir können auf der globalen Bühne nur stark sein, wenn wir innerhalb der EU stark und geeint sind. Dazu müssen wir die verbleibende Fragmentierung weiter bekämpfen, vor allem durch die Einführung gemeinsamer EU-Politiken, um unsere globale und interne Wettbewerbsfähigkeit zu fördern. Die EU wird nur dann in der Lage sein, das Beste aus ihrer Wirtschaftskraft zu machen, wenn die Mitgliedstaaten und die EU-Institutionen ihr Engagement für den Binnenmarkt erneuern und weitere konkrete Schritte unternehmen, um ihn stärker und widerstandsfähiger zu machen.

Wir sind uns auch des zunehmend globalisierten und voneinander abhängigen Weltmarkts bewusst. Die EU steht in ständigem Kontakt mit ihren Partnern in der ganzen Welt, sowohl auf bilateraler Ebene als auch in den einschlägigen internationalen Gremien. Unsere Beziehungen zu Partnern in der ganzen Welt beruhen auf Zusammenarbeit und nicht auf Konfrontation. Der Binnenmarkt ist ein Paradebeispiel für die Zusammenarbeit zwischen europäischen Ländern, die zu Frieden, Stabilität und Wachstum führt. Dieser Erfolg der Europäischen Union ist das, was andere Länder und Regionen anstreben.

Baku hat ausdrücklich auf die guten Dienste der EU bei den Friedensvermittlungsgesprächen verzichtet und damit die Neutralität von Paris und Berlin in Frage gestellt. Die Verhandlungen finden nun überwiegend in einem bilateralen Rahmen statt. Verfügt die EU über die notwendigen Hebel, um in der Region eine relevante Kraft zu bleiben?

Die EU ist weiterhin bereit, die Friedensgespräche zu unterstützen. Jeder Fortschritt, der auf bilateraler Ebene erzielt wird, ist ebenfalls eine willkommene Entwicklung. Letztlich müssen Armenien und Aserbaidschan selbst eine Vereinbarung über einen gerechten und dauerhaften Frieden treffen. Die EU setzt sich seit langem für Frieden und Sicherheit im Südkaukasus ein, nicht nur als Vermittler in den Verhandlungen, sondern auch durch konkrete Präsenz vor Ort, zunächst durch die EU-Beobachtungsmission in Georgien und seit letztem Jahr durch die EU-Mission in Armenien. Die EU hat konsequent zur Achtung der Souveränität und territorialen Integrität aller drei Länder der Region aufgerufen.

Das vielschichtige Engagement der EU im Südkaukasus zeigt, dass wir uns für die Sicherheit, Stabilität und Entwicklung dieser strategisch wichtigen Region einsetzen. Georgien ist inzwischen EU-Beitrittskandidat und möchte die Reformagenda im Zusammenhang mit seiner europäischen Integration fortsetzen. Alle von der Europäischen Kommission aufgelisteten Bedingungen müssen erfüllt sein, damit das Land seinen Weg der europäischen Integration fortsetzen kann. 

Wir unterstützen auch die laufenden demokratischen und wirtschaftlichen Reformen in Armenien und streben eine Vertiefung unserer Zusammenarbeit auf der Grundlage gemeinsamer Werte und Interessen an. Die EU ist für Aserbaidschan ein wichtiger Wirtschaftspartner, der insbesondere auf der bestehenden Energiepartnerschaft aufbaut. 

Der Südkaukasus kann von der Entwicklung der Konnektivität zwischen Ost und West profitieren, die auch für die EU von zentralem Interesse ist. Die Freigabe der Verkehrsverbindungen innerhalb der Region ist eine Voraussetzung für die Erschließung des vollen Wachstums- und Entwicklungspotenzials als Transitpunkt. Die Verhandlungen zwischen Armenien und Aserbaidschan sind noch im Gange, aber die EU hat ihren Standpunkt deutlich gemacht: Die Öffnung der regionalen Verbindungswege sollte auf der uneingeschränkten Achtung der Souveränität und der Rechtsprechung der Länder sowie auf den Grundsätzen der Gleichheit und Gegenseitigkeit beruhen. Eine Konnektivität auf dieser Grundlage würde Frieden, Zusammenarbeit und Wachstum fördern. Dies sollte in jedermanns Interesse sein.

Historisch gesehen war Georgien ein führender Reformer in der Östlichen Partnerschaft. In jüngerer Zeit war es Ungarn, das sich für die Beitrittskandidatur von Tiflis einsetzte. Unabhängig davon, ob man mit dieser Richtung einverstanden ist, sind Sie im Vorfeld der Europawahlen besorgt, dass extreme politische Kräfte die politische Agenda der EU bestimmen könnten? 

Georgien wurde der Status eines EU-Beitrittskandidaten unter der Voraussetzung zuerkannt, dass die in der Empfehlung der Kommission vom 8. November 2023 dargelegten Schritte unternommen werden. Die Entscheidung basierte auf den Verdiensten Georgiens unter Berücksichtigung des Kommissionsberichts, der eine detaillierte Bewertung der Erfüllung der zwölf Prioritäten enthielt, die in der Stellungnahme der Kommission zum Beitrittsantrag Georgiens festgelegt waren. Um den eingeschlagenen Weg der europäischen Integration fortzusetzen, muss Georgien seine Reformbemühungen zur Stärkung der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Achtung der Grundrechte verstärken. 

Die europäische Politikgestaltung basiert auf Kompromissen und Konsens. Oft gibt es Differenzen zwischen den Mitgliedstaaten oder politischen Lagern, aber letztlich ist die Europäische Union in der Lage, Entscheidungen zu treffen und voranzukommen. Unser demokratisches politisches System ist robust genug, um allen Veränderungen standzuhalten, die nach den Europawahlen eintreten könnten.

Dennoch gibt es berechtigte Fragen zur Handlungsfähigkeit der EU sowie zur Angemessenheit und Effizienz ihrer Entscheidungsverfahren. Da wir uns über unsere derzeit 27 Mitglieder hinaus erweitern wollen, kann es immer schwieriger werden, in einigen wichtigen Politikbereichen Einstimmigkeit zu erzielen. Wir müssen uns darauf vorbereiten, die europäische Integration nicht nur zu erweitern, sondern auch zu vertiefen, um nach innen und außen funktionieren zu können. 

Beitrag von Ilya Roubanis

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