Dr. Nadja Douglas: "Paschinjan muss mit den alten Eliten zusammenarbeiten"

Fotorechte: David Ausserhofer
Fotorechte: David Ausserhofer

Dr. Nadja Douglas ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien in Berlin. Sie arbeitet zu sicherheitspolitischen Fragestellungen sowie Staat-Gesellschafts-Beziehungen im postsowjetischen Raum. Im Interview mit "Caucasus Watch" ging die Politikwissenschaftlerin auf die innen- und außenpolitischen Probleme ein, mit denen der armenische Ministerpräsident Nikol Paschinjan zu kämpfen hat. Ob Reformen, Beziehungen zu Russland oder die Bergkarabach-Frage: der Konflikt zwischen den alten Eliten und dem neuen Regierungschef ist omnipräsent.  "Insgesamt sind das aber Nadelstiche gegen die Regierung und kein koordiniertes Gegenprojekt zu Paschinjan, was da aufgebaut wird", meint Douglas. Die neuerliche emotionsgeladene Attacke Nikol Paschinjans auf das Justizsystem des Landes sieht die Expertin kritisch: "Solch emotionale Reaktionen stehen dem Revolutionsführer zu, sind aber eher untypisch für einen amtierenden Ministerpräsidenten".

Wir haben in den letzten Monaten feststellen können, dass viel Momentum für Paschinjans Aktionen gegen die Anhänger des alten Regimes aufkam. Glauben Sie,  dass sich die alten Eliten nun nach dessen Freilassung aus der Untersuchungshaft um Kotscharjan sammeln werden?

Zunächst einmal denke ich, dass die alten Eliten nicht so vereint sind wie es auf den ersten Blick scheint. Also wenn es darum geht sich gegen Paschinjan zu positionieren, dann ja, aber darüber hinaus gibt es keine gemeinsame politische Agenda, zumal auch die Oppositionsparteien im Parlament sich nicht dezidiert gegen Paschinjan gerichtet haben. 

Die alten Eliten rund um die Republikaner sind so geschwächt, dass sich im Falle einer möglichen Rückkehr Kotscharjans in die Politik, wie er dies zum Zeitpunkt seiner Verhaftung  angedacht hatte, keine ausreichende Unterstützerbasis mobilisieren werden könnte. Ausgenommen davon wäre vielleicht Dashnaktsutyun, welche jedoch auch uneins im Hinblick auf diese Frage scheint. Ich denke, dass die alten  Bergkarabach-Loyalitäten eine Rolle spielen. Da sind vor allem der derzeitige Präsdent Bako Sahakjan und sein Vorgänger, die sich während des Prozesses klar hinter Kotscharjan gestellt haben. Das war ein politisch-taktischer Schritt um Paschinjan zu schwächen. Die Freilassung war ja auch erstmal nur vorübergehend und nicht endgültig. Die beiden Führer aus Bergkarabach haben nur für Kotscharjan gebürgt. Die Verhandlung geht nun vor das Verfassungsgericht. 

Das Problem ist wohl, dass es gerade in einigen konservativen  Medien eine Art Kommunikationsoffensive gegen Paschinjan gibt. Zum Teil wird der Ton auch von den russischen Medien angegeben. Insgesamt sind das aber Nadelstiche gegen die Regierung und kein koordiniertes Gegenprojekt zu Paschinjan, was da aufgebaut wird.

Droht der Konflikt zwischen Paschinjan und den Eliten in Bergkarabach weiter zu eskalieren?

Das ist schwer einzuschätzen. Paschinjan wird von den Bergkarabach-Eliten offen vorgeworfen, dass er einen „Ausverkauf von Bergkarabach“ betreiben würde. Er hat ja anfangs selbst großspurig gesagt, dass der Konflikt unter ihm in kürzester Zeit gelöst werden könnte, obwohl er innenpolitisch mit ganz anderen Baustellen zu kämpfen hat. Demnach hat er im Grunde gar nicht die Kapazitäten sich intensiv mit dem Bergkarabach-Konflikt auseinanderzusetzen. Deshalb warf man ihm vor vorschnelle Zugeständnisse zu machen. Dass zwischen Paschinjan und den Bergkarabach-Elite Misstrauen herrscht, kann man auch daran erkennen, dass Paschinjan Zweifel über die Hintergründe und den Hergang  des Vier-Tage-Krieges 2016 geäußert hat. Aus diesem Grund hat er angekündigt einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss zu der Angelegenheit einzuberufen, was einen Affront gegenüber der Führung in Bergkarabach darstellt. 

Paschinjan hat öffentlich rote Linien zur Konfliktlösung aufgezeigt und sich eine Einmischung der Führung Bergkarabachs in die inneren Angelegenheiten Armeniens verbeten. Gleichzeitig hat er immer wieder klar gemacht, dass er kein Vertreter Bergkarabachs sei und nur für die Belange Armeniens sprechen kann. Er stellt außerdem immer wieder die Forderung auf, auch im Rahmen der Minsker Gruppe, dass die Bergkarabach-Armenier selber am Verhandlungstisch sitzen sollten wie dies in den 1990er Jahren bereits der Fall war.

Eskalationspotenzial ist auch deswegen vorhanden, da Russland immer wieder latent die Bergkarabach-Vertreter und die Paschinjan-Regierung versucht zum Zwecke eigener Interessen gegeneinander auszuspielen.

In Kasachastan ist das Treffen zwischen Putin und Paschinjan kurzfristig abgesagt worden, wobei man in Jerewan zuvor fest davon ausging, dass das Treffen stattfinden würde. Offenbar wurde der Termin von Moskau abgesagt. In diesem Kontext - wie schätzen Sie das Verhältnis zwischen Putin und Paschinjan ein, und welche Rolle spielt dabei die Kotscharjan-Affäre? 

Dass die beiden sich persönlich sympathisch sind würde ich stark bezweifeln. Trotzdem glaube ich, dass es auf beiden Seiten das Verlangen gibt produktiv zusammenzuarbeiten, und dass Russland und Armenien das auch in Zukunft tun werde. Nun ist das armenisch-russisch Vertrauensverhältnis ja nicht erst seit der Regierungszeit Paschinjans angespannt, sondern ist schon länger eingetrübt, vor allem aufgrund der Waffenverkäufe an Aserbaischan. Es ist ja weithin bekannt, dass die russische Führung und Putin selbst die Samtene Revolution nicht gutgeheißen haben. Ich habe ja bereits im ZOIS-Expertengespräch erwähnt, dass Paschinjan, mit dem Ziel Russland als Sicherheits-und Kooperationspartner nicht zu verprellen, darauf bestanden hat, dass die „Samtene Revolution“ keine farbige Revolution war. 

Natürlich hat Paschinjan gemerkt, dass Russland -zwar nicht offen und offensiv- aber auf subtile Weise Kotscharjans Fall und seine Anhänger unterstützt. Moskau zielt dabei wohl nicht auf einen Regierungssturz von Paschinjan ab, da dies nicht unbedingt in Russlands Interesse wäre, sondern versucht ihn innenpolitisch in Schach zu halten. Trotzdem glaube ich, wie gesagt, dass Putin ein Interesse daran hat auch weiterhin mit Paschinjan zusammenzuarbeiten. Es ist aber durchaus gut für ihn, wenn sich Paschinjan in seiner Rolle nicht zu sicher fühlt. Sollte das Revolutionsprojekt durch die Kotscharjan-Affäre ein paar Kratzer abbekommen ist das wohl ganz im Sinne der russischen Führung. Warum das Treffen in Kasachstan abgesagt worden ist, ist schwer zu beurteilen. Das könnte unterschiedliche Gründe haben und sollte meiner Meinung nach nicht überinterpretiert werden.

Wie sehen Sie Paschinjans kürzlichen Attacken auf das Justizsystem und den Vorwurf des Populismus? Was sind die möglichen Konsequenzen für Armenien?

Die Entwicklung ist sehr problematisch. Dass Paschinjan zur Entlassung von unliebigen Richtern aufgerufen hat war zunächst sehr irritierend, weil das nicht in die Vorstellung eines neuen liberalen Regimes passt, das sich auf Rechtstaatlichkeit beruft. Dies unterminiert die Glaubwürdigkeit der Regierung. Wenn sie und das Parlament demokratisch gewählt sind, dann muss auch versucht werden auf demokratischem Wege Reformbemühungen umzusetzen. Es hat auch keinen Sinn die gespaltene Elite weiter zu spalten.  Wenn Paschinjan von sich behaupten möchte der Ministerpräsident aller Armenier zu sein, dann muss er auch mit eben diesen alten Eliten zusammenarbeiten. 

Es ist natürlich schwierig für ihn, mit Richtern und Staatsanwälten zusammenzuarbeiten, von denen der Großteil von Sarksjan und Kotscharjan ernannt wurde. Diese können aber nicht einfach abgesetzt werden. Ohne Verfassungsänderung müssen die Richter entweder aus eigenem Willen zurücktreten oder versterben, da sie auf Lebenszeit ernannt wurden. Paschinjan hat mit der Justizreform zu spät angefangen und versucht dies nun zu kompensieren. Der Versuch dies mit der Brechstange durchzusetzen  ist nach hinten losgegangen, vor allem weil dies natürlich international Kritik hervorgerufen hat. Paschinjan hat seine frühen Prioritäten wohl einseitig gesetzt als er mehrfach von einer „wirtschaftlichen Revolution“ gesprochen hat. Der Justizsektor wurde dabei vernachlässigt. 

Ich glaube nicht, dass das von ihm so intendiert war, aber es sieht momentan so aus, als ob die Äußerungen zur Justizreform nach der Freilassung Kotscharjans aus persönlichen politischen Motiven erfolgten. Solch emotionale Reaktionen stehen dem Revolutionsführer zu, sind aber eher untypisch für einen amtierenden Ministerpräsidenten. Was die zukünftigen Entwicklungen betrifft muss man nun weiter beobachten wohin die sogenannte Übergangsjustiz führt. Die Regierung hätte aber im Grunde eine notwendige zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament, um auch in diesem Sektor Verfassungsänderungen in Gang zu bringen.

Die Östliche Partnerschaft hatte kürzlich ihr 10-Jähriges Jubiläum. Hat Armenien mit CEPA bereits sein Maximum an Kooperation mit der EU erreicht? Wo sehen sie noch Möglichkeiten zum Ausbau der Beziehungen unter Armeniens „neutraler“ Ausrichtung?

Tatsächlich gibt es in der armenischen Bevölkerung -und das zeigen auch öffentliche Meinungsumfragen- eine überwiegende Unterstützung für CEPA. Genau so gibt es aber auch eine große Mehrheit, welche die Zusammenarbeit mit der Eurasischen Wirtschaftsunion gutheißt. Demnach versucht die Regierung mit sowohl dem Osten als auch dem Westen gute Beziehungen zu unterhalten. Die Komponente einer möglichen Teilhabe an der EU-Freihandelszone wäre mit dieser Ausrichtung aber wohl nicht unbedingt kompatibel. Ein interessantes Beispiel, wo dies trotzdem umgesetzt wurde, ist Transnistrien. Transnistrien ist 2016 dem DCFTA (Vertiefte und umfassende Freihandelszone, englisch „Deep and Comprehensive Free Trade Area“) beigetreten, blieb  jedoch nach wie vor eingebunden in den Freihandel der  Eurasischen Wirtschaftsunion. Dort funktioniert dieses Überlappen anscheinend. Für Armenien wurde ein solches Szenario jedoch meines Wissens nach ausgeschlossen und die EU hat im Hinblick darauf auch Verständnis gezeigt. Die EU hat kein Interesse daran einen Konflikt zwischen Armenien und Russland zu verantworten. Deswegen glaube ich, dass es durchaus mehr Kooperation in Form einer verstärkten und vertieften Partnerschaft geben kann, eben mit Ausnahme der Freihandelszone.. Ich könnte mir aber durchaus vorstellen, dass es in naher Zukunft auch in Armenien zu einer Visaliberalisierung mit der EU, wie in Georgien, Moldau und der Ukraine, kommen könnte. 

Wichtig ist auch, dass die EU anerkennt, wie arm Armenien tatsächlich ist. Circa ein Drittel der armenischen Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze. Deshalb darf man hier nicht die gleichen Fehler machen wie in anderen Partnerländern der ÖP. In der Vergangenheit hat man in diesen Ländernbeobachten können, dass die Einbindung in den europäischen Marktim Hinblick auf die wirtschaftliche Entwicklung natürlich dazu führt, dass Investoren angezogen werden und das Exportvolumen steigt. Es wurde leider weniger darauf geachtet, dass auch die Bevölkerung vor Ort davon profitiert. In diesem Punkt sind die Ergebnisse eher durchwachsen, da sich diesozio-ökonomischen Lage vor Ort  kaum verbessert  hat.

Was versprechen Sie sich von den neuen Verhandlungsrunden zwischen der armenischen und aserbaidschanischen Regierung?

Anfang des Jahres war man noch vorsichtig optimistisch, nachdem es eine Reihe von Treffen gegeben hat. Besonders das Außenministertreffen in Paris im Januar war sehr produktiv und es kam auch zu einem direkten Treffen zwischen Paschinjan und Alijew in Wien im April. Die Verlustzahlen an der Kontaktlinie sind in den letzten zwei Jahren auch stetig zurückgegangen und es wurde im Rahmen der neuen Verhandlungen eine Hotline zwischen den Konfliktparteien eingerichtet.

Trotzdem gab es in jüngster Zeit wieder einen Zwischenfall bei dem ein aserbaidschanischer Soldat getötet wurde. Von Seiten Aserbaidschans wurden auch diverse nicht-angekündigte Militärübungen abgehalten, die wiederum von Armenien kritisiert wurden. Das trübt die Stimmung wieder. Es gab auch erneute Forderungen die „Public Diplomacy“, also die menschlichen Kontakte zwischen Armeniern und Aserbaidschanern, wieder zu fördern. Insgesamt glaube ich aber, dass es anfangs sehr viel Enthusiasmus gab auf Seiten Paschinjans, der aber wiederum durch die Bergkarabach-Armenier ausgebremst wurde. Diese ziehen wohl aus innenpolitischen Gründen nicht an einem Strang. 

Man sollte deshalb nicht zu hohe Erwartungen an diese Verhandlungen haben. Bisher kam immer etwas dazwischen in Zeiten der Annäherung. 2015 z.B. gab es neues Momentum durch den Lawrow-Plan innerhalb der Minsk-Gruppe. Man konnte sich damals jedoch nicht auf die Inhalte einigen und es gibt sogar Behauptungen, dass diese Streitigkeiten zu der Eskalation des Vier-Tage-Kriegs beigetragen haben sollen. 

Ich habe aber gelesen, dass Aserbaidschan momentan durchaus motiviert ist und nun einen hohen Staatsbeamten für die Leitung der aserbaidschanischen Bergkarabach-Kommission eingesetzt hat und sich dafür stark macht, dass die aserbaidschanische Bergkarabach-Gemeinde auch einen Platz an dem zukünftigen Verhandlungstisch einnehmen soll. 

Dies ist jedoch Zukunftsmusik und Aserbaidschan, wie auch Armenien, haben jeweils ihre ganz eigenen Vorstellungen davon wie ein Friedensabkommen aussehen soll und diese sind nicht im Einklang mit denen des jeweils anderen. Das ist eigentlich schon immer so gewesen. 

 

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