Interview mit Dr. Halbach über den Inguschisch-Tschetschenischen Territorialkonflikt

Dr. phil. Uwe Halbach

Dr. Halbach ist seit 2001 an der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin, in der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien tätig.  Zu seinen Forschungsfeldern gehören Nationen-und Staatenbildung im postsowjetischen Raum- besonders im Kaukasus und Zentralasien; Sezessionskonflikte im Kaukasus sowie Islam und islamistische Bewegungen im postsowjetischen Raum. Dr. Halbach produzierte zahlreiche Publikationen, zuletzt: „Tschetscheniens Stellung in der Russischen Föderation: Ramsan Kadyrows Privatstaat und Wladimir Putins föderale Machtvertikale“ (SWP-Studie März 2018) und „Militarisierungsprozesse im Südkaukasus: Aufrüstung und Kriegsrhetorik im Umfeld ungelöster Territorialkonflikte“ (SWP-Studie August 2018).

 

Herr Dr. Halbach, auch wenn der Territorialkonflikt zwischen den beiden Republiken momentan auflodert hat er eine lange Vorgeschichte. Könnten Sie unseren Lesern einen historischen Überblick zur Kontextualisierung geben?

Die aktuelle Auseinandersetzung um die Grenzziehung zwischen Tschetschenien und Inguschetien bringt ein Thema zurück in die Nordkaukaus-Debatte, das dort zu Beginn der nachsowjetischen Periode im Mittelpunkt gestanden hatte: ethno-territoriale Konflikte um umstrittene Grenzlinien. Das Moskauer Institut für Geographie verzeichnete 1991 eine Vielzahl von Streitfällen um (damals noch) innersowjetische Grenzlinien. Davon entfiel gut ein Drittel auf den Kaukasus. Den Hintergrund für die besondere Situation im Nordkaukasus bildeten Faktoren wie umstrittene und häufig wieder geänderte Grenzziehungen zwischen nationalen Gebietseinheiten in sowjetischer Zeit, die Bildung bi-nationaler „Bindestrich“-Republiken wie Tschetscheno-Inguschetien oder Kabardino-Balkarien, die Deportation ganzer Volksgruppen wie der Tschetschenen und Inguschen 1943/44 und deren Rückkehr Ende der 1950er Jahre in ihre ehemaligen Wohngebiete, in denen inzwischen Angehörige anderer Volksgruppen angesiedelt worden waren.  Der erste gewalthafte Konflikt im nachsowjetischen Russland entfaltete sich 1992 zwischen Inguschen und Osseten um die nationale Zugehörigkeit des Prigorodny-Bezirks bei Vladikavkaz, der Hauptstadt der Teilrepublik Nordossetien. Er wurde kurz darauf von der Eskalation im Konflikt zwischen Moskau und Tschetschenien in den Hintergrund gedrängt, wird jetzt aber im Umfeld der neuerlichen Grenzdebatte in Inguschetien wieder thematisiert. Auch in Dagestan werden im Kontext des Grenzabkommens zwischen den Republikführern Tschetscheniens und Inguschetiens vom 26. September territoriale Streitfragen wieder aktualisiert, die aus der Deportation von Tschetschenen 1944 und nachfolgenden Gebietsveränderungen resultieren.

Was das neuerliche Grenzabkommen zwischen Tschetschenien und Inguschetien betrifft, greift es im Wesentlichen auf eine Vereinbarung von 1993 zurück, die nach der Trennung zwischen beiden Teilen der zuvor bi-nationalen Republik getroffen worden waren. Der neuerlichen Vereinbarung waren Zwischenfälle vorausgegangen, die Warnungen vor Eskalation provozierten. 2013 kam es zu einem Zusammenstoß zwischen Sicherheitskräften beider Teilrepubliken im Grenzgebiet. Im August 2018 kam es hier zu Auseinandersetzungen zwischen inguschischen Dorfbewohnern und einer tschetschenischen Straßenbau-Kolonne.

 

Das russische Verfassungsgericht in St Petersburg hat das Abkommen am 07.12 rechtlich anerkannt und damit dem Richtspruch des inguschischen Verfassungsgerichts widersprochen. Welche institutionelle Rolle spielen die russische Zentralregierung und die russischen Gerichtsinstanzen in diesem regionalen Konflikt?

Die gegensätzlichen Urteile der Verfassungsgerichte auf regionaler und zentraler Ebene – die Suspendierung des Abkommens durch das Gericht in Inguschetien und seine Bekräftigung durch das Bundesverfassungsgericht – werfen wieder einmal die Frage nach dem Verhältnis zwischen föderaler Gewalt und der Autonomie nationaler Teilrepubliken auf. Für die meisten russischen Juristen ist das Verfassungsgericht der Russischen Föderation bei einem Rechtsstreit zwischen zwei Föderationssubjekten zuständig. Dagegen sah der Vorsitzende des Verfassungsgerichts der Teilrepublik die Souveränität Inguschetiens durch die Aufhebung der gerichtlichen Forderung nach einem Referendum über das Grenzabkommen durch das Bundesgericht verletzt.

 

Welche politische Position vertritt Moskau im Bezug auf das Abkommen?

In den russischen Medien trat diese Krise bislang nicht besonders stark hervor. Einige inguschische Aktivisten sind nach Moskau gereist, um bei dem TV-Sender Doshd‘ ihren Protest einem breiteren Publikum zu übermitteln. Sollten sich bislang ungelöste territoriale Streitigkeiten im Nordkaukasus im Kontext mit dieser Bewegung erneut entfalten, wäre dies für Moskau natürlich eine Herausforderung. In letzter Zeit war diese Region in der Wahrnehmung der russischen Bevölkerung eher zurückgetreten, weil die Zahl der Gewaltereignisse in ihr seit etwa 2013 deutlich reduziert wurde. Und diese Gewaltereignisse hatten besonders im östlichen Teil des Nordkaukasus zuvor mit einem über Republikgrenzen hinausgreifenden islamistischen Untergrund zu tun, der ethno-territoriale Streitfragen in den Hintergrund gedrängt hatte.

 

Im November kam es zu größeren Protesten gegen das Abkommen in Nazran (Inguschetien). Warum handelt die inguschische Regierung unter Junus-bek Jevkurov gegen den starken öffentlichen Widerstand ihrer Bevölkerung und könnten Sie sich vorstellen, dass dies zu langfristiger politischer Instabilität in Inguschetien führen wird?

Wie schon gesagt, hat die Auseinandersetzung um den Grenzdeal zwischen Jevkurov und Kadyrov andere ungelöste Territorialfragen wie die um den Prigorodny-Rayon in Nordossetien und den Status von Gebietsteilen in Dagestan, die vor 1944 von Tschetschenen bewohnt waren, erneut thematisiert. Bislang zeigt sich die aktuelle Entwicklung aber eher als eine innenpolitische Krise in Inguschetien, wo vor allem der Alleingang des Republikführers Jevkurov bei dem Deal mit seinem tschetschenischen Amtskollegen angefochten wird; von Protestaktivisten, von einigen Abgeordneten, von der muslimischen Geistlichkeit, von dem Verfassungsgericht der Teilrepublik u.a. Da kam die Forderung nach einem Referendum auf. Diese Reaktion hat Jevkurov offenbar unterschätzt. Dabei muss man berücksichtigen, dass im Unterschied zu dem autoritär regierten Tschetschenien - dem Kadyrov’schen „Privatstaat“ - in Inguschetien Zivilgesellschaft noch recht aktiv ist und sich gegen autoritäre Tendenzen in der politischen Führung artikuliert. Bislang ist es in der aktuellen Auseinandersetzung noch nicht zu größeren Gewaltakten gekommen – was für die Verhältnisse im Nordkaukasus bemerkenswert ist. Beide Seiten, die Republikbehörden und die Protestaktivisten, haben sich bemüht, eine aus dem Ruder laufende Eskalation zu vermeiden.  So entschieden die Organisatoren der Protest-Rally in Magas am 17. Oktober, den Protest bis zum Monatsende auszusetzen. Die Republikregierung nahm im Gegenzug einen Antrag auf Demonstrationen für Anfang November an. In der Zwischenzeit wurden Vorbereitungen für den ersten Weltkongress des inguschischen Volkes für den 30.Oktober getroffen.

 

Die neuere Eskalation wird von vielen Beobachtern an Kadyrovs Person festgemacht. Wie schätzen Sie die Rolle Kadyrovs in dem Konflikt ein? Hat Kadyrov mit dem Abkommen seine Ambitionen durchgesetzt oder denken Sie, dass er darüber hinaus territoriale Ansprüche in der Region erheben könnte?

Die Einschätzungen, wer in dem Deal vom 26. September wen übervorteilt, gehen auseinander. Einige weitgehend unbewohnte Landstücke vor allem im Bezirk Sunsha, die zu Inguschetien gehörten, sollen nun zur Begradigung der Grenze an Tschetschenien übergehen. Inguschische Aktivisten behaupten, auf den betroffenen Landflächen befänden sich Kulturdenkmäler ihrer Volksgruppe, ja auch Ölfelder. Viele Kommentatoren verweisen auf Expansionsgelüste Ramsan Kadyrovs und auf seine grenzüberschreitenden Übergriffe in der Vergangenheit. Anders sieht dies z.B. Oleg Orlov, Kaukasusexperte von Memorial: Kadyrov ziehe hier Gebietsansprüche eher zurück, die er in vergangenen Jahren lautstark verkündet habe. Insofern stehe Inguschetien nicht unbedingt als der Verlierer da.

Gebietsansprüche stellt Kadyrov auch an Dagestan. Da verschärfte sich im Umfeld seines Grenzabkommens mit Inguschetien die Frage umstrittener Siedlungen tschetschenischer Bevölkerungsteile in der Nachbarrepublik, vor allem die sog. Akkiner-Frage und die nach der Wiederherstellung des Bezirks von Auch, aus dem 1944 die Volksgruppe der tschetschenisch-stämmigen Akkiner deportiert worden war. Nach der Deportation wurde der Bezirk aufgelöst. Ein Großteil seines Territoriums gehört heute zum Novolakskij-Rayon Dagestans, ein kleinerer Teil zum Rayon Chasavjurt. Nach der Rehabilitation der Deportierten von 1956 und der Rückkehr vieler Akkiner in ihre Heimatgebiete wurden die dort neuangesiedelten Volksgruppen zum Teil wieder zwangsumgesiedelt. Bis heute bestehen aber Spannungen zwischen dort noch verbliebenen Laken, Awaren und Kumyken und der tschetschenischen Bevölkerungsgruppe, die seit 1990 die Wiedererrichtung des Auch-Rayon fordert. Sollte die seit 1990 von Tschetschenen geforderte Wiederherstellung dieses Bezirks unter Übergabe an Tschetschenien erfolgen, könnte dies Unruhe unter der multi-ethnischen Bevölkerung der größten nordkaukasischen Teilrepublik Dagestan hervorrufen. Der Republikführer Vladimir Vasil’ev hat bereits angekündigt, bei Grenzverhandlungen mit seinem tschetschenischen Amtskollegen die Meinung der Bevölkerung Dagestans zu berücksichtigen.     

 

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