Interview mit Dr. Uwe Halbach über die Situation im Kaukasus während der Corona-Krise
Dr. Halbach ist seit 2001 an der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin, in der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien tätig. Zu seinen Forschungsfeldern gehören Nationen-und Staatenbildung im postsowjetischen Raum- besonders im Kaukasus und Zentralasien; Sezessionskonflikte im Kaukasus sowie Islam und islamistische Bewegungen im postsowjetischen Raum. Dr. Halbach produzierte zahlreiche Publikationen, zuletzt: „Tschetscheniens Stellung in der Russischen Föderation: Ramsan Kadyrows Privatstaat und Wladimir Putins föderale Machtvertikale“ (SWP-Studie März 2018), „Militarisierungsprozesse im Südkaukasus: Aufrüstung und Kriegsrhetorik im Umfeld ungelöster Territorialkonflikte“ (SWP-Studie August 2018), „Kirche und Staat in Russland“ (SWP-Studie April 2019), „Korruption und Korruptionsbekämpfung im Südkaukasus“ (SWP-Studie Mai 2020).
Herr Dr. Halbach, der Nordkaukasus, scheint besonders stark vom Ausbruch des Coronavirus betroffen zu sein. Gibt es sozioökonomische Gründe dafür?
Der Nordkaukasus gilt als eine in sozioökonomischer Hinsicht problematische Region der Russischen Föderation. Die Budgets der dortigen Teilrepubliken waren bislang hochgradig von Subventionen aus dem Zentrum abhängig, die nun rückläufig sind. Das Gesundheitswesen ist der Sektor, der in der Corona-Krise von Mängeln in der Infrastruktur besonders betroffen ist. Generell wird aus Russland über eine Kluft zwischen dem Zentrum und den Regionen bei der Ausstattung und Leistungsfähigkeit von Kliniken berichtet. Im Nordkaukasus ist der Zustand des Gesundheitswesens besonders schlecht. Aus einigen Kliniken kamen Proteste über diesbezügliche Missstände. Im Internet wurden Namen medizinischer Fachkräfte aufgelistet, die zu Tode kamen. Besonders Dagestan war davon stark betroffen. Ein sozialer Faktor, der den Nordkaukasus im Pandemie-Kontext hervorhebt, ist der enge Sippen-und Familienzusammenhalt. Zu Beginn der Pandemie wurde aus Dagestan und anderen Teilen der Region von Massenversammlungen bei Hochzeiten und religiösen Festen berichtet, die zu „hot-spots“ für die Infektionsausbreitung wurden. Inzwischen mahnt auch die islamische Geistlichkeit zu Abstandswahrung und Einhaltung von Regeln zur Infektionseindämmung.
Russland ist zu Beginn des Coronavirus-Ausbruchs wegen einem Mangel an Transparenz und einer verspäteten Reaktion seitens des Kremls in die Kritik geraten. Denken Sie, dass die Lage in den Nordkaukasusrepubliken durch einen anderen Ansatz der Zentralregierung in Moskau hätte verhindert werden können?
Mangelnde Transparenz ist das Problem bei der Kommunikation der Behörden mit der Bevölkerung über Corona. Das gilt für den Nordkaukasus wie für die gesamte Russische Föderation. Putin hat in der Krise die Verantwortung für die zu treffenden Maßnahmen zunehmend an die Republikhäupter und Gouverneure auf regionaler Ebene delegiert. Eine autokratisch regierte Teilrepublik wie Tschetschenien ist von Transparenz weit entfernt.
Sehen Sie Anzeichen zu einer möglichen Besserung der Lage in Dagestan?
Am 26. Mai verkündete der Republikführer Wassiljew im Fernsehen, die Situation in Dagestan sei unter Kontrolle und verbessere sich allmählich. Er bedankte sich für Hilfen aus dem föderalen Zentrum, die bereits positive Wirkung zeigten. So hat das russische Militär Feldhospitale für Covid-19 Patienten errichtet. Doch dass die Infektionsdynamik damit wirklich „unter Kontrolle“ ist, stößt in Dagestan auf erhebliche Zweifel. Ende Mai entfielen von rund 400 Corona-bedingten Todesfällen im Föderalbezirk Nordkaukasus mehr als 300 auf Dagestan, das dort mit rd. drei Millionen Einwohnern allerdings auch die größte Teilrepublik ist. Die Zahl dürfte noch höher liegen, haben sich in Russland in den letzten Wochen doch generell Zweifel an den als zu niedrig erscheinenden Angaben der Covid-19 Todeszahlen erhoben.
Die aserbaidschanische Führung hat sich ebenfalls besorgt über die Situation in Dagestan gezeigt und Präsident Alijew hat sich mit Präsident Putin über mögliche Kooperationswege ausgetauscht. Hat sich in dieser Hinsicht bereits etwas getan?
In Telefongesprächen zwischen den beiden Präsidenten und den beiden Außenministern wurden laut Presseangaben „gemeinsame Aktionen im Kampf gegen die Pandemie einschließlich gegenseitig vereinbarter Maßnahmen an den Grenzkontrollpunkten erörtert“. Bislang beziehen sich diese Maßnahmen auf eine Öffnung der zuvor geschlossenen Staatsgrenze für die Evakuierung von Personen aserbaidschanischer Herkunft aus Dagestan nach Aserbaidschan. Putin nannte in dem Gespräch mit Alijew die Situation in Dagestan als „schwierig“. Sie erfordere dringende Hilfe. Über die Grenzöffnung hinausgehende Maßnahmen sind mir bislang aber nicht bekannt geworden.
Tschetscheniens politische Führung hat strikte Beschränkungen zur Eindämmung des Virus erlassen. Kritiker sehen darin einen erneuten Versuch der Autoritäten ihre Macht zu sichern. Denken Sie, dass diese neuen Einschränkungen nach dem Ende des Ausbruchs wieder vollends aufgehoben werden?
Das erwarte ich eher nicht. Ramsan Kadyrow hat schon lange vor der Corona-Krise die politische Kontrolle über Medien und zivilgesellschaftliche Kräfte in Tschetschenien verschärft und wird die durch die Krise bedingte Verstärkung der Kontrolle auch nach der gegenwärtig beginnenden Lockerung der Quarantäne-Maßnahmen kaum zurücknehmen. Er hat die im März verhängten Maßnahmen mit härtesten Strafen, ja Todesdrohungen gegen Personen versehen, die ihnen nicht Folge leisten. Zu Beginn der Pandemie hatte er dagegen Drohungen gegen „Panikmacher“ ausgesprochen und die Gefahr eher verharmlost.
Was sind Ihrer Einschätzung nach die größten lokalen und/oder globalen wirtschaftlichen Herausforderungen für den Nordkaukasus im Zuge der Epidemie?
Wie schon gesagt geht eine wesentliche Herausforderung von der Überlastung der lokalen Gesundheitssysteme aus, die ohne maßgebliche Hilfe aus dem Zentrum der Russischen Föderation oder von außen kaum in der Lage sind, Infizierte adäquat zu behandeln. Zudem könnte bei einer anhaltenden Corona-Krise wachsende Frustration in der lokalen Bevölkerung für das Zentrum zur Herausforderung werden. So kam in Russland eine der stärksten Reaktionen auf die verhängten „Lockdown“-Maßnahmen aus Vladikavkaz, der Hauptstadt der nordkaukasischen Teilrepublik Nordossetien. Dort versammelten sich am 20.April angeblich bis zu 2000 Demonstranten und forderten die Aufhebung von Isolationsmaßnahmen und den Rücktritt des Republikführers Bitarow. Die größte sozialökonomische Herausforderung für die Entwicklung nach Corona sind kaum zu bewältigende Maßnahmen zum Wiederaufbau der in der Corona-Krise geschrumpften Wirtschaft. Der föderale Haushalt ist nun zu stark unter Druck, um die Subventionen für die von ihm hochgradig abhängige kaukasische Peripherie noch zu erweitern oder auch nur auf dem gegenwärtigen Stand zu halten. Finanzielle Hilfsmaßnahmen für Bevölkerungsgruppen, die von Quarantäne-Maßnahmen in ihrer wirtschaftlichen Existenz gefährdet werden, treffen zudem im Nordkaukasus auf besondere Hindernisse. Hier ist der Anteil der informellen Wirtschaft und der in ihr beschäftigten Arbeitskräfte hoch. Und an diesen Personenkreisen geht solche Hilfe vorbei, wenn sie denn überhaupt geleistet werden kann.
Können Sie uns abschließend noch eine Einschätzung zu der Reaktion der drei Südkaukasusstaaten geben? (Insbesondere im Hinblick auf die wirtschafts-und gesundheitspolitische Reaktion)
Der Südkaukasus nimmt in der weltweiten Corona-Statistik bislang eine eher positive Stellung ein. Die registrierten Infektionsfallzahlen pro Einwohner sind hier wesentlich niedriger als in den meisten EU-Staaten, ganz zu schweigen von Corona-Epizentren wie USA, Brasilien und Russland. Ende Mai beläuft sich die die offiziell angegebene Gesamtzahl der Infektionsfälle im Südkaukasus auf rd. 15.000, die der an Covid-19 Verstorbenen auf 200. Dabei ist allerdings auffällig, wie die Fallzahlen zwischen Georgien und Armenien auseinanderklaffen. In Armenien liegen die offiziellen Zahlen der Infektionsfälle mit rd. 9000 und die der Todesfälle mit 130 zehn Mal höher als im Nachbarland. Auch im Vergleich zu Aserbaidschan sieht die Situation in Armenien schlecht aus. Georgien hat Anfang März mit strikten Maßnahmen auf die von Corona ausgehende Gefahr reagiert, nachdem hier am 26. Februar der erste Infektionsfall gemeldet wurde. Dafür erlangte die Regierung Lob von internationalen Organisationen. Derzeit beginnt die Lockerung des „Lockdown“ in den drei Staaten. Für Georgien fällt dabei vor allem der Tourismussektor ins Gewicht, der 2019 noch mit gut 20 Prozent zur Wirtschaftsleistung beigetragen hat. Eine längere Schließung dieses Sektors würde die Wirtschaft des Landes erheblich schwächen.