NATO-Mitgliedschaft ist keine Voraussetzung für die Entwicklung Georgiens

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Quelle: http://nato.mfa.gov.ge
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In einem exklusiven Interview mit Caucasus Watch beantwortet Tom De Waal Fragen zu seiner überarbeiteten Ausgabe von The Caucasus: An Introduction, die im Dezember dieses Jahres erscheinen soll.

 

Sie sagen, dass Georgien die Erfolgsgeschichte des Kaukasus und das europäischste der drei Länder ist.

Im vergangenen Jahr erhielt Georgien Zugang zur Schengen-Zone. Wird sich Georgien auf diesem Weg weiterentwickeln können und sich ohne militärischen Schutz der NATO zunehmend in die EU integrieren?

Meine Antwort darauf wäre grundsätzlich- ja. Die NATO-Mitgliedschaft ist für die Entwicklung Georgiens in der Welt nicht unbedingt eine Voraussetzung. Das enge Verhältnis zur EU und wirtschaftliche Aspekte scheinen wichtiger zu sein. Ich sehe Russland seit 2008 nicht mehr als große Bedrohung für Georgien und ich glaube, dass Moskau keine aggressiven Pläne für Georgien hat. Offensichtlich will Russland nicht, dass Georgien der Nato beitritt, und will ein generell freundliches Regime in Tiflis haben. Ich denke jedoch, dass die Zeiten, in denen wir über eine russische militärische Bedrohung für Georgien sprachen, vorüber sind und Georgien eine Antwort auf diese Frage ohne die NATO in Form einer starken bilateralen Beziehung zu den USA gefunden hat. Das Pentagon professionalisierte Georgiens Armee durch Schulungen und ähnliches. Georgien wird also wahrscheinlich in der Lage sein, bei den wichtigsten Fragen, zu denen Regierungsfragen, Wirtschaft und Handel gehören, Fortschritte zu machen, ohne sich zu sehr um die NATO zu sorgen.

 

Diese Frage ist jetzt von besonderer Bedeutung, weil wir gesehen haben, dass das Putin-Regime in der Vergangenheit unberechenbarer wurde, wenn seine Unterstützung innerhalb der Bevölkerung nachließ. Aber ich denke, es gibt momentan Regionen, um die sich Experten mehr Sorgen machen, wie die baltischen Staaten, die Ukraine oder Moldawien. Würden Sie diese Einschätzung teilen?

Nachdem ich kürzlich in Russland war und an einem Roundtable über den Kaukasus teilgenommen habe, hatte ich den Eindruck, dass der Kaukasus im Moment keine große Priorität in Russland hat. Niemand spricht wirklich über Georgien. Das Gespräch dreht sich hauptsächlich um die Ukraine und die USA, und zunehmend auch um Großbritannien. Es gibt heute wenig Aggressionspotential gegen Georgien. Auf jeden Fall ist es nicht vergleichbar mit der Situation von vor zehn Jahren war.

 

Sie haben auch das Problem der informellen Macht in Georgien beschrieben. Iwanishvili belebte die Opposition, nur um daraufhin zum nächsten starken Mann zu werden. Kann Georgien diese Hindernisse der informellen Macht überwinden? Der Narrativ in Ihrem Buch handelt von einem Konflikt zwischen einem „offenen Georgien“ und einem „geschlossenen Georgien“.

In Georgien gibt es einen großen Kampf, und wir kennen die Antwort darauf noch nicht. Sicher, die georgischen Institutionen sind stärker als zuvor, aber wir haben in den letzten fünfzehn Jahren zwei Personen gesehen, die einen enormen persönlichen Einfluss hatten. Zuerst Saakaschwili und dann Iwanischwili. Iwanischwili hat noch immer, wie wir gesehen haben, den Status eines informellen Königs in Georgien. Dennoch ist es interessant festzustellen, dass die jüngsten Präsidentschaftswahlen, von denen die erste Runde gerade stattgefunden hat, ein großer Rückschlag für Iwanischwili war. Er unterstütze Zurabischwili, die offensichtlich keine gute Kandidatin war. Experten meinten, sie würde die erste Runde gewinnen, aber dies geschah nicht. Es war ein großer Rückschlag für ihn und die Opposition hinter Vaschadze ist nun der Favorit in der zweiten Runde. Das zeigt, dass die georgische Politik noch immer am Leben ist und dass die Gesellschaft noch sehr aktiv ist. Die Georgier sind noch immer in der Lage, gegen das, was sie als Machtmonopol oder Machtmissbrauch sehen, mobil zu machen. Für mich ist das ein positives Zeichen.

 

In Ihrem Buch beschreiben Sie das Schicksal Südossetiens und Abchasiens. Für viele Beobachter ist ein bedeutsamer Fortschritt bei diesen territorialen Konflikten unvorstellbar. Was könnte Ihrer Meinung nach getan werden, um die derzeitige Stagnation in den Verhandlungen zu überwinden?

Leider wurden die meisten der Möglichkeiten die sich im Laufe der Jahre aufgetan haben verpasst. Südossetien ist jetzt im Wesentlichen hinter Stacheldrähten eingeschlossen und vom Rest Georgiens abgeschnitten. Es hat nur noch eine Bevölkerung von vielleicht gerade einmal 30.000. Abchasien auf der anderen Seite hat immer noch eine interessante Gesellschaft, aber wir haben in den letzten zehn Jahren eine zunehmende Isolation von Georgien und eine zunehmende Abhängigkeit von Russland sowie einen generellen Trend zur allgemeinen Isolation erlebt. Diese Situation nützt niemandem. Nicht den Georgiern, nicht den Abchasen und möglicherweise nicht einmal den Russen, die für ihre Hilfe in Abchasien einen heftigen Preis zahlen. Was kann man also tun, um das zu ändern? Nachdem ich kürzlich einen langen Bericht zu diesem Thema verfasst habe, würde ich empfehlen, in Abchasien ein stärkeres internationales Engagement zu befördern. Dieses Engagement kann ohne Anerkennung erfolgen. Internationale Hilfe in den Bereichen des Gesundheitswesens, der Umwelt und des Bildungssystems könnte angeboten werden. Dies wäre ein Anfang. Es ist interessant zu sehen, ob dies in Abchasien noch möglich wäre, und ob dies für die Abchasen auch akzeptabel wäre. Es steht fest, dass Europa kann in Bezug auf Bildung und Gesundheitsfürsorge qualitativ bessere Dienstleistungen anbieten könnte als die Russen. Offensichtlich ist Handel der andere große Anreiz, der angeboten werden könnte. Der Handel über die Grenze mit Westgeorgien wäre wichtig. Ich denke, das ist das einzige, was die Situation positiv beeinflussen könnte. Ein viel größerer internationaler Versuch, Abchasien erneut zu integrieren, wäre notwendig, aber es ist viel schwieriger, dies jetzt zu tun, als es noch vor zehn oder fünfzehn Jahren gewesen wäre.


Tom de Waal ist als Senior Fellow bei Carnegie Europe tätig. Seine Spezialgebiete sind Osteuropa und der Kaukasus.

Er ist Autor zahlreicher Publikationen über die Region. Seine letzte Buchveröffentlichung war "Great Catastrophe: Armenians and Turks in the Shadow of Genocide " (Oxford University Press, 2015). Er ist auch der Autor des Standardwerkes über den Nagorno-Karabach Konflikt, Black Garden: Armenien und Aserbaidschan durch Frieden und Krieg (NYU Press, zweite Auflage 2013), das in Armenisch, Aserbaidschanisch, Russisch und Türkisch übersetzt wurde. Er schrieb außerdem, The Caucasus:An Introduction (Oxford University Press, 2010), welches ebenfalls zu einem Standardwerk wurde.

De Waal hat als Journalist und Schriftsteller im Kaukasus und in der Schwarzmeer-Region sowie in Russland gearbeitet. Von 1993 bis 1997 arbeitete er in Moskau für die Moscow Times, die Times of London und The Economist, wobei er sich auf russische Politik und die Situation in Tschetschenien spezialisierte. Er ist der Ko-Autor des Buches Chechnya: Calamity in the Caucasus (NYU Press, 1997), für das die Autoren den James-Cameron-Preis für ausgezeichnete Berichterstattung erhalten haben.

Er arbeitete auch für die BBC und für das Institute for War and Peace Reporting, eine in London ansässige NGO.

Interviewer: Philip Roehrs-Weist 

 

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