Neue Realitäten im Südkaukasus: Interview mit Dr. Nadja Douglas
Dr. Nadja Douglas ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien in Berlin. Sie arbeitet zu sicherheitspolitischen Fragestellungen sowie Staat-Gesellschafts-Beziehungen im postsowjetischen Raum.
Frau Dr. Douglas, seit unserem letzten Interview hat sich im Kaukasus durch den erneuten Kriegsausbruch in Bergkarabach viel verändert. Insbesondere in Armenien scheint die Nachkriegssituation auch schwere innenpolitische Folgen zu haben. Wo sehen Sie die größten Herausforderungen für die armenische Gesellschaft?
Die größte Herausforderung für die armenische Gesellschaft ist sicherlich den innergesellschaftlichen Frieden wiederherzustellen sowie eine gewisse nationale Einheit zu schaffen, um die gewaltigen Aufgaben, die dem Land in einem neuen Kapitel seiner Geschichte bevorstehen, gemeinsam zu bewältigen. Es gilt nun reaktionären Kräften Einheit zu gebieten, denn revisionistische Tendenzen helfen derzeit nicht weiter. Das heißt allerdings nicht, dass die Armenier längere Zeit in einer Schockstarre verharren können. Es gibt viel Handlungs- und Aufklärungsbedarf, z. B. was die Rückkehr Kriegsgefangener und Kriegstoter sowie Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen anbetrifft, die laut Berichten auf beiden Seiten während des jüngsten Krieges verübt worden sind. Desweiteren gilt es Demarkationsfragen, die Räumung von Minen und anderen Kampfmitteln, sowie das Schicksal von Binnengeflüchteten zu klären. Auch die Zukunft von armenischen religiösen und kulturellen Gütern auf nunmehr von Aserbaidschan zurückerobertem Gebiet bereitet vielen Sorgen. Bei all diesen Themen sollte die armenische Gesellschaft ein Mitspracherecht haben. Letztlich gilt es aber vor allem die politische und wirtschaftliche Situation, die derzeit auf tönernen Füßen steht (und zusätzlich von der Covid-19-Krise in Mitleidenschaft gezogen wurde) zu stabilisieren.
Glauben Sie, dass sich die politische Situation ohne einen Rücktritt Paschinjans beruhigen kann?
Nein, ich denke, das ist nicht möglich. Premierminister Paschinjan hat offensichtlich keine breite Mehrheit mehr in der Bevölkerung hinter sich. Er hat sich durch die tragische Niederlage in dem 44 Tage-Krieg gegen Aserbaidschan politisch und moralisch desavouiert. Auch die Eliten des Landes, einschließlich des Staatspräsidenten, der parlamentarischen Opposition, allen drei früheren Staatschefs, der Oberhaupte der armenischen Kirche sowie zahlreichen Gouverneuren und Intellektuellen, haben sich gegen ihn und einen Fortbestand seiner Regierung ausgesprochen. Er muss den Weg freimachen für einen Wechsel, ob in Form einer Übergangsregierung, wie von der Opposition gefordert, oder sofortigen Neuwahlen, wie von der regierenden Mein-Schritt-Fraktion befürwortet, bleibt abzuwarten. Dennoch trägt Paschinjan, wie er selbst wiederholt betont hat, nach wie vor die Verantwortung dafür, dass das Land nicht ins Chaos stürzt. Denn eine glaubhafte politische Alternative hat sich bislang noch nicht aufgetan. Auch das außerparlamentarische Oppositionsbündnis, das den ehemaligen Premierminister Wasgen Manukjan als Kandidaten für die Parlamentswahlen aufgestellt hat, schafft es nicht, anders als Paschinjan 2018, breite Bevölkerungsgruppen zu Protesten auf die Straße zu bringen. Die Bedingungen dafür sind derzeit nicht förderlich: die Bevölkerung ist müde vom Krieg, von unzähligen Protesten und von den Einschränkungen durch die Corona-Pandemie. Viele Gastarbeiter*innen mussten Corona-bedingt und aufgrund der allgemein schwierigen wirtschaftlichen Lage aus Russland sowie anderen Ländern in die Heimat zurückkehren. Somit haben die meisten Menschen zurzeit mit persönlichen, vor allem finanziellen Problemen, zu kämpfen. Zudem ist es derzeit äußerst kalt auf den Straßen Jerewans.
Glauben Sie, dass das Friedensabkommen nachhaltig ist und von allen armenischen Akteuren langfristig akzeptiert wird?
Das ist aus dem heutigen Blickwinkel schwer zu beurteilen. Derzeit haben sämtliche politische Akteure, selbst die Oppositions-Hardliner der „Homeland Salvation Front“, die sich vor allem aus Vertreter*innen der alten Riege der Republikaner zusammensetzt, eingesehen, dass es keine andere Wahl gibt als die Situation zu akzeptieren. Es gib keinen Hebel das Friedensabkommen zu revidieren. Doch wettern viele trotzdem gegen Paschinjans mangelhaftes Verhandlungsgeschick, die für Armenien unvorteilhaften Ergebnisse und fordern eine Neuverhandlung der noch offenen Fragen unter Mithilfe Russlands. Viele verkennen dabei, dass ein solches Szenario nicht unbedingt im russischen Interesse sein würde. Denn Russlands scheint ganz zufrieden mit dem Status quo zu sein.
Das nationale Selbstbewusstsein Armeniens ist derzeit im Keller. Die gesamte Gesellschaft ist demoralisiert. Das könnte sich allerdings in ein paar Jahren wieder ändern, sofern ein gewisses Selbstbewusstsein zurückerlangt wird und Kräfte, die einen aggressiven Nationalismus und Militanz propagieren ggf. die Oberhand gewinnen. Derzeit sind noch große Teile der Gesellschaft, vor allem in Bergkarabach selbst, den Russen dankbar für ihren friedenserhaltenden Einsatz. Doch es gibt bereits kritische, anti-russische Stimmen, die an Popularität gewinnen. Der Vorwurf einer russischen Besatzung, der in allen anderen post-sowjetischen Konflikten, in denen russische „friedenserhaltende“ Truppen zum Einsatz gekommen sind, mittlerweile zum gängigen Diskurs gehört, könnte auch in Armenien Einzug erhalten.
Während des Krieges und auch in der Neuordnung der Nachkriegszeit scheinen westliche Akteure wenig Einflussnahme gehabt zu haben. Denken Sie, dass die Veränderungen die Möglichkeiten der EU bei der Unterstützung der Demokratisierung und Zivilgesellschaft in Armenien zukünftig beeinflussen werden?
Ich denke, dass die jüngsten Ereignisse rund um den zweiten Bergkarabach-Krieg den Einfluss westlicher Akteure, wie der OSZE und der EU, auf die Gesellschaften im Südkaukasus, insbesondere Armenien, eher erschwert haben. Eine Konsequenz mit erheblicher Tragweite ist die noch engere Anbindung an und Abhängigkeit von Russland. Die Möglichkeiten des Kremls, sich in in die innenpolitischen Entwicklungen Armeniens einzumischen, sind erheblich gestiegen. Es steht daher zu befürchten, dass der demokratische Aufschwung, den das Land seit 2018 erlebt habt, nun einen erheblichen Rückschlag erfahren wird und wir zunächst regressive Tendenzen beobachten werden. Da bleiben der EU und den Vorhaben im Rahmen der ÖP wenige Hebel, wo sie ansetzen könnten. Was die OSZE angeht, hat Russland die Ko-Vorsitzenden der Minsk Gruppe (USA und Frankreich) erfolgreich ausgebootet und die Zügel selbst in die Hand genommen. Von einigen wird das aufgrund der mageren Bilanz nach 28 Jahren vergeblicher Vermittlungsversuche auch hingenommen, wenn nicht gar als legitim erachtet. Wobei wir im Hinterkopf behalten müssen, dass die Minsk-Gruppe sich ehedem darauf geeinigt hatte, dass eine mögliche Friedensmission, die immer wieder Thema von Verhandlungen war, eine multinationale sein sollte und dass die Truppen-Kontingente weder aus den Staaten der Ko-Vorsitzenden noch aus Anrainerstaaten in der Region stammen sollten.
Letztlich ist Russlands Alleingang aber auch ein Zeugnis der strukturellen Probleme internationaler Konfliktvermittlung auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion. Gerade die anderen beiden Ko-Vorsitzenden der Minsk Gruppe müssen sich vorwerfen lassen, der Region und dem Konflikt im Speziellen zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt zu haben. Russland und seit einiger Zeit auch die Türkei waren und sind sehr viel enger an den Ereignissen dran und haben deshalb 2020 auch politisch (Russland) und militärisch (Türkei) interveniert. Inwieweit diese Interventionen völkerrechtlich legitim waren oder die derzeitige russisch-geführte „Friedensmission“ mit den international anerkannten Kriterien und Normen für Friedensoperationen übereinstimmt, steht auf einem anderen Blatt. Moskau hat jedenfalls keinen Hehl daraus gemacht, dass es sich von Washington und Paris keine politische Unterstützung, sondern viel mehr Hilfe bei der Mobilisierung internationaler Hilfsgelder für den humanitären und wirtschaftlichen Wiederaufbau in der Region wünscht. Präsident Putin sprach zuletzt in Davos beim Weltwirtschaftsforum davon, dass die Ko-Vorsitzenden der Minsk Gruppe gemeinsam die Aufgabe hätten, die vom Krieg betroffene Region beim Wiederaufbau zu unterstützen.
Wie sehen Sie Russlands Einfluss auf die innerarmenischen Angelegenheiten seit dem Bergkarabach-Krieg? Konnte Moskau seinen Einfluss in der Region insgesamt stabilisieren oder sind die Entwicklung hin zu einer Stärkung Aserbaidschans in Partnerschaft mit der Türkei eher nachteilig für Russland?
Noch während des Kriegsgeschehens war zeitweilig unklar, ob Russland noch Herr der geopolitischen Lage und Entwicklungen in der Region ist. Der Kreml unternahm zwar wiederholte Vermittlungsversuche, die Konfliktparteien wieder an den Verhandlungstisch zu bringen, blieb aber sonst im Gegensatz zur Türkei – den Eindruck machte es jedenfalls auf externe Beobachter – eher unbeteiligt. Dies änderte sich mit der überraschenden Bekanntgabe und Unterzeichnung des Waffenstillstandsabkommens vom 9. November. Russland hatte, wie eben geschildert, die internationalen Partner umgangen. Aber auch die Türkei wurde wieder an den Rand gedrängt. Moskau beteiligte Ankara zwar nicht an der friedenserhaltenden Mission in Bergkarabach, beschwichtigte die Türkei aber dahingehend, dass es sie in einem gemeinsamen Kontrollzentrum zur Überwachung des Waffenstillstands auf aserbaidschanischem Territorium einband. Die im Abkommen aufgeführten Bedingungen gestaltete Russland so, dass sie vor allem für Russland selbst zweckdienlich waren/sind. Seit dem letzten Waffenstillstand 1994 hatten sich beide Konfliktparteien immer wieder vehement gegen eine russische Militärpräsenz bzw. „Friedensmission“ vor Ort gewehrt. Nun mussten beide, Armenien und Aserbaidschan, dieser zustimmen. Aserbaidschan, beflügelt durch seine territorialen Rückgewinne, stimmte folglich Konditionen zu, die es unter anderen Umständen abgelehnt hätte, während Armenien nicht mal mehr die Wahl hatte oder Einfluss darauf nehmen konnte, dass zumindest eine Regelung für den Status von Bergkarabach aufgenommen wurde. Russland hat unterm Strich seinen Einfluss in der Region stabilisieren können, wobei zwei Entwicklungen Russland durchaus beunruhigt haben dürften. Das eine ist die Skrupellosigkeit, mit welcher die Türkei in die Einflusssphäre Russlands eingedrungen ist und diesen Konflikt militärisch erheblich mitbestimmt hat. Das andere ist die erhebliche militärische Niederlage, die das vor allem von Russland gerüstete armenische Militär gegenüber den weitaus überlegeneren (und mit strategisch wichtigen Kampfdrohnen ausgerüsteten) aserbaidschanischen Streitkräften erlitten hat.
Welchen Einfluss werden Ihrer Meinung der Krieg und das neue Friedensabkommen auf die Beziehungen zwischen Armenien und Aserbaidschan haben?
Krieg und Friedensabkommen haben in Armenien und Aserbaidschan ganz unterschiedliche Entwicklungen ausgelöst. Während sich die aserbaidschanische Bevölkerung als siegreiche Nation feiert, über die Armenier triumphiert und sich ein aggressiver Nationalismus im Land breitmacht, hadern die Armenier vor allem mit sich selbst und verarbeiten zunächst einmal ein nationales Trauma. Leider sind beide Gesellschaften von Rachsucht durchzogen. Zahlreiche Aserbaidschaner trachten danach endlich das in der Vergangenheit erlittene Leid infolge von Vertreibungen und Zerstörungen zu sühnen. Viele Armenier hingegen überlegen, wie und wann in der Zukunft die nunmehr verlorenen Gebiete in und um Bergkarabach zurückgewonnen werden können. Obwohl gerade Persönlichkeiten wie der aserbaidschanische Präsidentenberater Hikmet Hajiev davon sprechen, dass der Konflikt gelöst sei und man nun an einen echten Frieden denken könne, geschieht dies doch aus einer überlegenen Haltung heraus. Die Armenier sind eine sehr stolze Nation und sehen die Situation naturgemäß anders. Sie fühlen sich um Jahrzehnte zurückgeworfen und fangen aus ihrer Perspektive nochmal ganz von vorne an. Solange es keine Lösung für den Status von Bergkarabach gibt, ist für sie weder eine Konfliktlösung noch ein Frieden überhaupt denkbar. Ein echter nachhaltiger Frieden kann tatsächlich nur entstehen, wenn sich die beiden Konfliktparteien wieder auf Augenhöhe begegnen können. Das wird auf absehbare Zeit wohl nicht geschehen.
Glauben Sie, dass es signifikante Veränderungen im Verhältnis zwischen Armenien und der Türkei geben wird?
Das Verhältnis zwischen Armenien und der Türkei war gestört und hat sich durch die militärische Unterstützung Aserbaidschans durch die Türkei im 44-Tage-Krieg nur noch weiter verschlechtert. Besonders empört hat die Armenier der völkerrechtswidrige Einsatz von syrisch-islamistischen Söldnern durch die Türkei. Zeitweilig polemisierten Regierungsvertreter*innen in Jerewan, dass ein zweiter Genozid bevorstünde und die Türkei Armenien endgültig auslöschen würde. Annäherungen oder Versuche einer Normalisierung der Beziehungen, wie sie z. B. 2009 von türkischer Seite unternommen wurden, sind aus heutiger Perspektive undenkbar geworden. Denkbar ist hingegen, dass es im Kontext der Regelung im Waffenstillstandsabkommen über eine Verbesserung der wirtschaftlichen Konnektivität und Transportverbindungen in der Region (Thema der kürzlich zusammengekommene trilateralen Arbeitsgruppe bestehend aus den Konfliktparteien und Russland), zu einer Lockerung des bislang geschlossenen Grenzregimes zwischen Türkei und Armenien kommt.